ISBN | 3476021181 | |
Autor | Hans Jörg Sandkühler | |
Verlag | Metzler | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 430 | |
Erscheinungsjahr | 2005 | |
Extras | - |
In einer alten, fast verschollenen Sonderausgabe der Gedichte Friedrich Hölderlins (1770-1843) mit dem Titel „Vom heiligen Reich der Deutschen“ steht Hölderlins Gedicht „Gesang des Deutschen“: „Du Land des hohen, ernsteren Genius! Du Land der Liebe! bin ich der deine schon, Oft zürnt ich weinend, daß du immer Blöde die eigene Seele leugnest.“ Worin dieser geistige Genius und jene philosophische Seele genau bestehen, beschreibt nunmehr ausführlich das „Handbuch Deutscher Idealismus“.
Die klassische deutsche Philosophie und ihr Begriff von Politik, Erkenntnis oder Natur stellt sich seit dem 19. Jahrhundert als eine von integralem Bewußtsein geprägte und tiefgründig das Wesen der Welt erfassende spezifische Denkart dar, wie sie kaum wieder auftrat und folglich ein entsprechendes Erbe für die Gegenwart in sich birgt. Es wirkten zu jener Zeit des Deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert die kritische Philosophie Immanuel Kants (1724-1804) und Gegenpositionen rationalitätskritischer glaubensphilosophischer Art, wie der ‚Ich’-Idealismus Johann Gottlieb Fichtes (1762-1804), Joseph Schellings (1775-1854) Bemühungen um einen Welten-Dualismus vermeidenden ‚Ideal-Realismus’ oder Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) Metaphysik des Absoluten als Geist. Gleichwohl ist auch Arthur Schopenhauers (1788-1860) zeitgleiche Auflösung der Welt in ‚Wille und Vorstellung’ prägend für ein deutsches Jahrhundert gewesen. So ist es erfreulich, wenn ein im Metzler-Verlag erschienenes \"Handbuch Deutscher Idealismus“ umfassend über diese wirkungsmächtigste Ideenkonstellation Europas einen sinnvoll gegliederten Einblick abliefert, dessen Besonderheit es ist, daß er diese philosophische Strömung sowohl als nationalgeschichtliches Phänomen darstellt, als auch seine Eingliederung in den internationalen Kontext absolviert. Herausgegeben worden ist das Buch von Prof. Dr. Hans Jörg Sandkühler, der zudem 1999 als Herausgeber der „Enzyklopädie Philosophie“ (2 Bde., Meiner-Verlag, Hamburg) agierte.
Die Autoren des vorliegenden Buches stellen von Beginn an fest, daß sich der Deutsche Idealismus „in weit komplexeren Dimensionen entwickelt“ habe, als bisher angenommen. Bereits hier wird die internationale Perspektive deutlich. Dennoch – so muß fairerweise vorweg gesagt werden - ist nicht zu leugnen, daß diese philosophische Ideenkonstellation vorrangig ein im kontinentalen Mitteleuropa gewachsenes Denken ist, das lediglich anderswo konstruktiv rezipiert wurde, was die Herausgeber implizit zugeben, wenn sie ein eigenes Kapitel den „Rezeptionen des Deutschen Idealismus in Europa“ widmen. In ihm stellen sie heraus, „daß die Intellektuellen aus ganz Europa sich in einem direkten Bezug auf die neuesten Ergebnisse der deutschen Philosophischen Debatte nicht entziehen konnten“. Und in der Tat: War das 18. Jahrhundert mit Montesquieu (1689–1755) und Rousseau (1712-1778) ein französisches Jahrhundert, so florierte der „Weltgeist“ gleichsam im 19. Jahrhundert in Deutschland und sollte – wie noch zu zeigen sein wird – bis nach Amerika seinen Einfluß zeitigen. Worin bestand also die Besonderheit der deutschen Denkart? Wieso dieses Buch?
Ihr Begriff von Philosophie und Politik stützt sich auf eine objektiv anerkannte Vernünftigkeit, die sich im Wollen und im Handeln als Geist eines Volkes verwirklicht und die Einzelnen als zusammengehörige Momente des Ganzen betrachtet. Der Staat beispielsweise ist eine rationale, lebendige und begrifflich-fundierte Rechts- und Verfassungsordnung, die von der inneren Zustimmung der Rechtsunterworfenen, also von den in ihr lebenden Menschen, getragen wird. Sie gilt als sich beständig optimierender Prozess, integriert Elemente des parteipolitischen Parlamentarismus, achtet aber auf geistige Eigenart, auf die „Eigenbedeutung aller menschlichen Phänomene“, wie es der französische Politologe Raymond Aron (1905-1983) in seinen Studien zur deutschen Philosophie ausdrücklich feststellte. Die daran anschließende deutsche Wissenssoziologie Karl Mannheims (1893-1947) betonte in diesem Zusammenhang trefflich, daß Volk, Staat, Sprache und Gesellschaft in dieser Verfassungsordnung subjektiv gemeinten Sinn zum Ausdruck bringen, der sich nach außen kehrt und wiederum auf das gesamte Gefüge in seiner spezifischen Eigenheit zurückwirkt. Die Realität wird wesentlich durch die ideellen Konfiguration derselben im menschlichen Geiste konstituiert. Als Idealisten gelten demnach schlechthin meist solche Menschen, welche die harte, reine Realität und ihre Anforderungen verkennen und sich über vermeintlich unerreichbare Ziele Gedanken machen. Konjunktur hätten dagegen längst die Pragmatiker und Realisten.
Dem ist offenbar nicht so, denn das zu besprechende Handbuch stellt zudem über den praktischen und umfassenden Anspruch der deutschen Philosophie heraus: „…gegen den mechanistischen Materialismus besteht sie auf einer lebendigen Materie, die von Anbeginn durch eine noch unbewusste Rationalität geprägt ist; gegen eine auf Herrschaft über die Natur ausgerichtete Naturforschung setzt sie sich auf die sympathetische Erforschung der Natur als unserer eigenen ‚Vorgeschichte’; gegen die Ausbeutung der Natur plädiert sie dafür, einen Sinn zu entwickeln für die Bedeutung der gemeinsamen Zugehörigkeit alles Lebendigen zur Natur und für die sich hieraus ergebende Verantwortung; dies macht ihre ethische Dimension aus.“ Es handelt sich also um eine - diesem Zitat nach zu urteilen - moderne, progressive und eine Ontologie des Maßes verkündende Lebens- und Denkhaltung, die heutigen Problemen der Ethik und ökologischer Katastrophen gewachsen ist, gleichsam ein neues Denken von Lösungsansätzen zu liefern in der Lage wäre. Gegen die reproduzierte Negativ-Folie vom Deutschen Idealismus stellt also das Buch Sandkühlers und seines internationalen Autoren-Kollektivs heraus, daß das idealistische Denken der Deutschen in seinen internationalen Auswirkungen niemals der Suprematie von Stubenhockern, Begriffsscholastikern oder Modernisierungsverlierern unterlag, sondern vielmehr weltläufigen, engagierten und enzyklopädischen Anspruch vertritt.
Bei fortgesetzter Lektüre dieses den Status eines neuen Standardwerks zum Thema verdienenden Buches, welches in systematisch konzipierten Kapiteln in die einschlägigen philosophischen Fragestellungen wie Vernunft und das Absolute, System und Methode, Erkenntnis und Wissen, Moral, Recht und Staat, Religion und Kunst einführt, wird jedoch zu wenig deutlich, daß sich beispielsweise auf der einen Seite ein prinzipiengeleiteter idealistischer Strang des Politikbegriffs des Deutschen Idealismus mit realistischem Anspruch befindet, während auf der anderen Seite ein konflikttheoretisch und konkurrenzdemokratisch orientierter Strang des Politikbegriffs auf angelsächsischer Seite auszumachen ist. Im Bezug zur Demokratie ließe sich weiter unterscheiden in eine konsens- und gemeinwohlorientierte Demokratietradition reflexiver Praxis mit dynamischer Offenheit auf Seiten des Deutschen Idealismus und eine individualistisch-funktionale Demokratietradition konkurrierender Parteien mit moralistischem Anspruch auf einen universalisierbaren Eigenwert, wie er in den Schriften der deutschen Nachkriegspolitologen Kurt Sontheimer oder Iring Fetscher auftrat, auf angelsächsischer Seite. Leider sind diese Unterschiede – trotz dargestellter internationaler Konvergenzen des Denkens – von den Autoren nicht benannt worden. Jene Divergenzen und ihr Konfliktpotential in den Kriegen des 20. Jahrhunderts – man denke an Thomas Manns (1875-1955) gepflegte Dualismen des Politikbegriffs aus „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) - sind nicht von der Hand zu weisen. Der herkömmliche Zwiespalt ‚westlich’ und ‚deutsch’ würde sonst aufgehoben werden können, ohne die tatsächlichen Unterschiede zu negieren, die nach 1918 und 1945 zwischen idealistischer und materialistischer Auffassung unleugbar sichtbar wurden.
Versöhnlich stimmt an dieser Stelle, daß das Buch Sandkühlers trotzdem folgendes korrekt über den Deutschen Idealismus herausstellt: „Die Geschichte durchläuft systematisch eine Reihe von prädeterminierten Etappen; bei jeder Etappe nehmen die Grundinstitutionen der Gesellschaft (z.B. ihre Politik, Religion, Wirtschaft und Kultur) eine charakteristische Form an.“ Das Handbuch betont damit selbst, daß jedes Volk seinen eigenen Philosophie- und Politikbegriff hat, und so hätten die Autoren um Sandkühler nebst internationalen Konvergenzen des Denkens wohl vielmehr auch von je differierenden philosophischen Phänomenen sprechen müssen, beschränkte sich doch das idealistische Denken im Ausland eher auf eine Rezeption des Deutschen Idealismus denn auf eigenständige Konzepte. Dabei war die von den Deutschen Idealisten Anfang des 19. Jahrhunderts geforderte „intellektuelle Erneuerung“ ebenso erstrebtes Ziel in anderen europäischen Ländern – lediglich 50 Jahre später.
Der phänomenologische Binnenpluralismus idealistischen Denkens hat seinen Kern offenbar dennoch in Deutschland, und speiste sich hier aus dem Geiste von Idealismus, Realpolitik, Anthropologie, Entfremdungskritik, integraler Kulturidee und geistiger Selbstbehauptung als selbstreflexiver Tradition, um sich den Verwerfungen des materialistischen Rationalismus, des diesseitigen Gewinnstrebens entgegenzustemmen. Er bot als Gegenentwurf eine ideale, freie und gemeinschaftliche Realität mit erst darauf aufbauender internationaler Perspektive, die Fichte vor allem in seinen „Reden an die deutsche Nation“ (1807/1808) entfaltete. Diese Relation von Mikrokosmos und Makrokosmos, von Nation und Kosmopolitismus, darzustellen, ist im vorliegenden Buch etwas versäumt worden, war doch der Deutsche Idealismus eine dezidiert gegen die englische sensualistisch-empiristische Philosophie gerichtete geistige Einheit. Normativer Begriff und empirische Wirklichkeit, d.h. Sollen und Sein, Erfahrung und Wissenschaft werden in die dialektische Denkbewegung hineingezogen, stehen sich nicht gegenüber und machen diese Denkart vielmehr zu der bereits benannten integralen Wirklichkeitswissenschaft.
Dennoch - das Buch Sandkühlers zeichnet sich trotz einer etwas konstruiert wirkenden Darstellung des europäischen Charakters des Deutschen Idealismus durch eine recht unvoreingenommene Schreibart aus, die geistige Phänomene Europas benennt und implizit zu der Erkenntnis führt, daß es wohl eine spezifisch deutsche Denkart, gar eine ‚deutsche Staatsidee’ im 19. Jahrhundert gegeben hat, die wesentlich philosophisch bestimmt war. Sie kam aber – so ließe sich fortsetzen - trotz gewisser Kontinuitäten nach 1945 nicht mehr zum Tragen. Ihre freiheitlichen Elemente eines offenen und anthropologisch fundierten Demokratieverständnisses, welches sich des Widerspruchs zwischen freier subjektiver Vernunft und einem möglichen vernunftlosen Zustand von Staat bewußt ist, sind unbeachtet geblieben. Als Beweis dafür können nach wie vor die Revolutionsschriften Fichtes über die Grundsätze der Beurteilung von Staat und Staatsveränderungen gelten, die 1967 von dem Bochumer Politologen Bernard Willms herausgegeben wurden.
So verwundert es nicht, daß in den Vorlesungen von Fichte, Schelling und Hegel nicht nur Studenten, sondern auch höhere Verwaltungsbeamte, Offiziere, Literaten und Politiker saßen. Philosophie war nicht innerakademische Philologie und Mumienkult – wie heute – sondern praktische Wissenschaft mit aktuellem Handlungsanspruch. Werden die Menschenrechte heute im Sinne eines globalen Universalismus stolz dem \"christlichen Abendland\" zugeschrieben, so sollte man dabei statt an die Kirche vielmehr an die Aufklärung speziell in Deutschland und an das Reflexionsvermögen Kants und Fichtes denken, die entgegen einem blinden Dogmatismus der Religionen stets die freie geistige und sofort zu lebende Spiritualität als eigentliche Religion forderten und damit die „Neue Mythologie“ oder die „Kraft der Phantasie“ als Stichworte der Jenaer Frühromantiker vorwegnahmen.
Hierzu befindet sich in dem Buch zurecht ein eigenes Kapitel, welches die Bedeutung von Novalis (1772-1801), der in Lutherstadt Wittenberg eigentlich Jurisprudenz studierte, oder Friedrich Hölderlin beschreibt. Glaubte Hölderlin einst an die „künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird“, so liegt gerade in dieser Zeit der Frühromantik ein wesentlicher geistiger Impuls von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf das Selbstbewußtsein der Deutschen in einer von politischen und sozialen Wandlungen geprägten Zeit begründet. Vier Jahre nach Hegels Tod fuhr 1835 die erste deutsche Eisenbahn. In historischer Parallele dazu: Das Selbstwertgefühl der alten Bundesrepublik beruhte auf Wirtschaftswunder und Sozialstaat, auf Wohlstand und sozialer Sicherheit. Der beständige Rückgang der Menge an sozialversicherungspflichtiger Erwerbsarbeit und die Wiederentdeckung von Individuum und Gemeinschaft haben ihre Ursache im Rückgang der inzwischen labil gewordenen Gewährleistung von Wohlfahrt. Das kommt einem Prozess der Entstaatlichung des Sozialen gleich. Mehrfach sind inzwischen – ohne merkliche Veränderung der Realpolitik - die Krise der Demokratie, die Krise des Europagedankens, die Krise des Sozialstaates und der Verlust nationaler Identität zum Mittelpunkt konstruktiver Auseinandersetzungen geworden. Und so erklärt sich die gleichsam voranschreitende Renaissance des Denkens Hölderlins oder Novalis’ in Deutschland dadurch, daß sie wiederum zu neuen Halt gebenden Fixpunkten des deutschen Selbstbewußtseins geworden sind.
Sie geben nach wie vor zu bedenken, daß in Mitteleuropa eine besondere Reflexions- und Denkkultur entstand, die außergewöhnlich kreative Potentiale in sich birgt. Die „Zerrissenheit“ des hölderlinschen Hyperion beruht auf einem nicht - noch nicht - gelungenen Verhältnis von Reflexion und empirischem Leben. Solange dieses Verhältnis nicht positiv bewältigt ist, theoretisch wie praktisch, solange dominiert notwendig die von Hyperion beklagte beispiellose „Zerrissenheit“ und zeigt – gerade in Deutschland - ihre negativen Auswirkungen. So schrieb der emotionell zerrissene Hölderlin bekanntlich in „Hyperions Schicksalslied“: „Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahrelang ins Ungewisse hinab.“
Sankühler stellt analog dazu trefflich heraus, daß die Frühromantiker lange nachwirkend eine geistige Revolution proklamierten, die im Gegensatz zur physischen Revolution der Franzosen des Jahres 1789 steht und die auf die „geistige Kultivierung eines Volkes“ als reife politische Tat bedacht gewesen sei. So absolvieren die Autoren um Sandkühler erstmals normativ unvoreingenommen die Benennung der Wichtigkeit, die dem philosophischen Gedanken von nahezu unendlichen geistigen Möglichkeitsstrukturen in Deutschland zukam. Die Jenaer Frühromantiker liefern Zeugnis für diesen Gedanken ab und Oswald Spengler betonte damit - womöglich unerwartet – völlig richtig in „Preußentum und Sozialismus“ (1924): „Das klassische Land der westeuropäischen Revolutionen ist Frankreich. (…) Die deutsche Revolution aber ist aus einer Theorie hervorgegangen. Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen.“
In anderer Hinsicht jedoch läßt das Handbuch zu wünschen übrig. Neben einer Auseinandersetzung mit den Frühromantikern und der Rezeption der idealistischen Schriften in europäischen Ländern wie England, Italien, Spanien, Frankreich und sogar Polen bleibt die amerikanische Perspektive völlig außen vor, obwohl hier eine enorme Rezeption des deutschen Denkens stattfand. Zu nennen wären die Namen Josiah Strong, der die Bekehrung der Welt zum Christentum und einen amerikanischen Nativismus vertrat, den er als Sekretär in der „American Evangelical Alliance“ in Form einer Missionsideologie sowie als Schöpfer der Prädestinationslehre der amerikanischen Weltherrschaft praktisch anwenden konnte. Strong übertrug damit die Idee des deutschen hegelschen Volksgeistes auf bedeutende Rassen, die in Analogie zu Hegels Konstruktion des Weltgeistes jeweils ein bestimmtes formgebendes Prinzip verkörpern. Die amerikanische imperiale Expansion sowie die von ihr damals vertretene „Auslöschung der unterlegenen Rassen“ wurzelt bei Strong in einer Perversion des deutschen Gedankens vom „Weltgeist“.
Zu nennen wäre sodann John W. Burgess, der seinen akademischen Einfluß an der New Yorker Columbia Universität ausübte und als Autor des Periodikums „Political Science Quarterly“ rassisch fundierte Imperialismusideologien vertrat, deren ungebrochener Fortschrittsoptimismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts zweifellos ohne die Hegelsche Missionsidee von den „zivilisierten Nationen“ nicht zu denken war. Der germanische politische Genius beherrsche – so die amerikanischen Theoretiker – die Welt, wohingegen die nationalsozialistische Idee lediglich als Reaktion verstanden werden könnte. Burgess’ Lieblingsschüler, Theodore Roosevelt (1858-1919), der bei Burgess die „wissenschaftliche“ Rechtfertigung für seine expansive Idee von Außenpolitik – auch gegen das Deutsche Reich – schöpfte, bekam im 20. Jahrhundert genügend Möglichkeiten zu ihrer Anwendung.
Weiterhin sind die Namen James K. Hosmer, der als Sanguiniker die Keimzelle der angelsächsischen Größe in der norddeutschen Tiefebene sah, und George B. Adams zu nennen. Sie gehören zu den aberhundert amerikanischen Historikern, welche ihre geistige Ausbildung, ihr akademisches und politisches Rüstzeug an den vom Deutschen Idealismus geprägten Universitäten des Kaiserreichs empfingen und die prägenden Ideen des Deutschen Idealismus gleichsam exportierten, um hinter dem Atlantik die alternative Idee des „Vereinigten Commonwealth aller Nationen unter angloamerikanischer Führung“ zu entwerfen. Erst jetzt wird die Tragweite des Denkens dieser amerikanischen Akademiker in ihrer Verbindung zum Deutschen Idealismus deutlich, was deren Nichterwähnung in dem Buch Sandkühlers als enormes Defizit – und sei es das einzige – aufscheinen läßt. Die Phänomene der Globalgesellschaft und der interdependenten Menschheit durch den Expansionismus der okzidentalen Staaten sowie das Völkerbund-Kartell der 20er Jahre, auch der amerikanische Weltherrschaftsanspruch hätten eine Klärung im Sinne der Darstellung einer Verwurzelung amerikanischen Denkens im deutschen philosophischen Denken erfahren können, die John Dewey (1859-1952) gewiß Angst und Schrecken bereitet hätte. Diese Denker wanderten mit zentraleuropäischen Ideen aus, die schließlich auf dem nordamerikanischen Kontinent so richtig Feuer von tatsächlich globaler Tragweite fingen.
Nach vollendeter Lektüre dieses Handbuchs von Sandkühler kann festgehalten werden: Das wichtigste Verdienst desselben ist es, die Differenzen und Schnittmengen der unterschiedlichen philosophischen Schulen – abgesehen von den amerikanischen - beschrieben zu haben. Seit der Entdeckung des „Ältesten Systemprogramms des Deutschen Idealismus“, dessen Manuskript in der Handschrift Hegels auf einer Auktion im März 1913 von der Königlichen Bibliothek zu Berlin erworben wurde, kommt der idealistischen Schule ohnehin neue Bedeutung zu und ist auch Hölderlins Rolle stärker beachtet worden, womit ein eigenes Kapitel zu Hölderlin in diesem Handbuch zurecht eine der wichtigsten Personen deutscher Geistesgeschichte neu würdigt und einem allgemeinen Trend – auch im Deutschland der Gegenwart - Rechnung trägt. Neben der Idee von der Menschheit, sowie den Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die im freien Geist beheimatet sind, wird in diesem „Systemprogramm“ der Idee der Schönheit unter besonderer Berücksichtigung der Poesie eine herausragende und verbindliche Rolle zugeschrieben. Es bleibt abzuwarten, ob die Bedeutung dieses Manuskriptes steigen wird.
In diesem Sinne bleibt dem vorliegenden Buch zu wünschen, daß es einen Effekt in Form des neuen Nachdenkens über deutsche Philosophie haben möge. Liegt es mit den übersichtlichen Beschreibungen eines geistigen Phänomens in Deutschland und Europa richtig, so muß zudem der Begriff ‚Deutscher Sonderweg’ in Gänze neu reflektiert werden, denn dieser Weg war kein destruktiver, militaristischer oder nationalsozialistischer, sondern in Wahrheit ein von geistiger Reife bestimmter, konstruktiver und vom Geist der Liebe geprägter Ansatz. Und so liegen unverändert die aktuellen geistigen Elemente der deutschen Politik vorrangig in der Unterscheidung zwischen geistig schaffendem Genius und formelhaft statischer Empirie begründet, die mit bloßer Semantik, Begriffen und der Definition von „Dissidenten“ Sachwalter einer Depotenzierung grundlegenden Denkens geworden ist, wie es die Deutschen des 19. Jahrhunderts niemals zugelassen hätten.
Kurz: In Deutschland ist die Unendlichkeit der Reflexion das Ausschlaggebende. Sie äußert sich in der Anerkennung dreier methodischer Konfigurationen zur Betrachtung des Seins: 1. Die Empirische Realität, welche nur dann als annehmbar verstanden wird, wenn sie sich konkret bewährt, wobei jede gegebene Erscheinung in ihrem Verhältnis zur Idee gefaßt wird und damit grundlegend veränderbar ist. 2. Die Absolute Idealität, die sich auf das bloße Sollen, die unreflektierte, dogmatische Normativität á la „Demokratie und Erziehung“ (John Dewey 1916) richtet und eine monologe ausschließlich metaphysizierende Tendenz besitzt. 3. Die Ideale Realität, die im Sinne einer umfassenden geistigen Synergie als Vollendung des einst zersplitterten Zustandes gilt, in dem der Geist nunmehr das Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen – man denke an die „Zerrissenheit“ Hölderlins – dialogisch transzendiert hat. Normativität und Empirie versöhnen sich. Das führt zur Selbsterkenntnis des Geistes, zur Selbstreflexion und zum Verlassen des Stadiums des bloß Gesinnungsmäßigen.
Die Deutschen verstanden also ihre Welt als gesetzte Welt, hervorgehend nicht aus einem materiellen Antrieb der Extension, zu dem ihn die amerikanischen Abkömmlinge verfremdeten, sondern aus dem Antrieb zur Intension, der durch die Materialität zur Idealität, durch die Natur zur Freiheit, durch die kausal-bedingte zu einer intelligiblen Welt durchzubrechen befähigt war – und ist. Der Deutsche Idealismus ist damit ein Phänomen von unverändert aktueller Tragweite für diejenigen, denen das Leben wesentlich durch Denken und Geist konstituiert ist. Das Buch von Sandkühler ist ein überfälliger erster Schritt dahin, dies neu aufgezeigt zu haben. Weitere Schritte stehen noch aus.
geschrieben am 17.03.2007 | 2922 Wörter | 19574 Zeichen
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