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Tour des Lebens


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Kapitel 1 Davor und danach

Ich möchte sterben, 100 Jahre alt, mit der amerikanischen Flagge auf dem Rücken und dem Stern von Texas auf dem Sturzhelm, wenn ich gerade auf dem Rennrad mit 100 Sachen einen Alpenpaß hinuntergerauscht bin. Ich möchte über die allerletzte Ziellinie rollen, während meine zehn Kinder und meine tapfere Frau Beifall klatschen, und dann möchte ich mich in eines dieser berühmten französischen Sonnenblumenfelder legen und würdevoll mein Leben aushauchen – das totale Gegenteil von dem bitteren frühen Ende, das scheinbar für mich vorgesehen war.

Langsam dahinzusiechen ist nichts für mich. Ich mache nichts langsam, nicht mal atmen. Bei mir muß alles schnell gehen: schnell essen, schnell schlafen. Es macht mich verrückt, mit meiner Frau Auto zu fahren, wenn sie am Steuer sitzt. Sie bremst bei jeder gelben Ampel, während ich genervt auf dem Beifahrersitz rumrutsche.

»Nun fahr schon, du schleichst rum wie ´ne lahme Tussi«, sage ich zu ihr.

»Lance«, gibt sie zurück, »heirate ´nen Mann.«

Mein ganzes Leben lang bin ich mit meinem Rennrad herumgerast, auf kleinen Sträßchen in Austin in Texas bis hin zu den Champs-Elyséees, und ich habe immer gedacht, wenn ich früh sterben sollte, dann deshalb, weil mich irgendein Bauer mit seinem Geländewagen kopfüber in den Straßengraben befördert hat. Gut möglich. Radfahrer befinden sich im Dauerkrieg mit diesen Typen in den riesigen Lastwagen. Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft und in wie vielen Ländern ich schon angefahren worden bin. Ich habe gelernt, mir selbst die Fäden zu ziehen. Man braucht dazu bloß einen Nagelknipser und einen starken Magen.

Wenn Sie wüßten, wie mein Körper unter dem Renntrikot aussieht, wäre Ihnen sofort klar, wovon ich rede. Ich habe marmorierte Narben an beiden Armen und verfärbte Stellen von oben bis unten an den Beinen, die ich mir übrigens glattrasiere. Vielleicht ist das der Grund, warum die LKW-Fahrer immer versuchen, mich über den Haufen zu fahren. Sie sehen meine gepflegten Waden und sagen sich, heute wird nicht gebremst. Aber ein Radrennfahrer muß sich rasieren, weil man unbehaarte Haut besser saubermachen und verbinden kann, wenn man über den Schotter gesegelt ist.

Eine Minute zuvor ist man noch die Straße entlanggeradelt, und im nächsten Moment liegt man mit der Schnauze im Dreck. Röhrend fegt ein Schwall heißer Auspuffgase über einen hinweg, man schmeckt den beißenden Dieselqualm und kann nur noch den entschwindenden Rücklichtern die Faust hinterher schütteln.

Mit dem Krebs war es nicht anders. Er war wie ein LKW, der mich von der Straße geschmissen hat, und ich trage noch die Narben, die das beweisen. Auf meiner Brust, knapp über dem Herzen, habe ich eine runzlige Narbe, wo der Venenkatheter gesessen hat. Von meiner Leiste bis zum rechten Oberschenkel hoch zieht sich die Operationsnarbe, wo sie mir den Hoden rausgeschnitten haben. Aber die Glanzstücke sind zwei tiefe Halbmonde auf meinem Schädel, als hätte mich zweimal ein Pferd getreten. Das sind die Andenken an meine Gehirnoperation.

Als ich 25 war, bekam ich Hodenkrebs, und daran wäre ich fast gestorben. Ich hatte eine Überlebenschance von nicht mal 40 Prozent, und, ehrlich gesagt, ein paar von meinen Ärzten haben das auch nur aus reiner Freundlichkeit gesagt. Ich weiß schon, der Tod ist nicht gerade ein Thema für Small talk. Krebs auch nicht, oder Narben am Schädel, oder das, was unterhalb der Gürtellinie liegt. Aber ich habe auch nicht vor, mich nett und unverbindlich mit Ihnen zu unterhalten. Ich will, daß Sie die Wahrheit erfahren. Ich bin sicher, es ist Ihnen lieber, davon zu hören, wie das mit dem Krebs wirklich war, wieso ich danach trotzdem die Tour de France gewinnen konnte, dieses Straßenrennen von über 3800 Kilometern, von dem man sagt, es sei der härteste Sportwettkampf der Welt. Sie wollen etwas erfahren über Glauben und nicht weiter Begründbares, über dieses ganz unwahrscheinliche Comeback, wodurch ich heute neben so überragenden Fahrern wie Greg LeMond und Miguel Induréain stehen kann. Vielleicht wollen Sie auch etwas über den oft wie ein Märchen erzählten Aufstieg in den Alpen und den Sieg über die Straßen der Pyrenäen lesen. Sie wollen wissen, wie ich mich dabei gefühlt habe.

Manches von dieser Geschichte ist nicht ganz leicht zu erzählen, und manches hört sich nicht besonders schön an. Ich bitte Sie gleich hier am Anfang, alles, was Sie über Helden und Wunder denken, zu vergessen. Das hier ist kein Märchenbuch. Wir sind nicht in Disneyland oder Hollywood. Ein Beispiel: Ich habe gelesen, daß ich die Hügel und Berge in Frankreich hinaufgeflogen wäre. Aber einen Berg fliegt man nicht rauf. Man quält sich langsam und unter Schmerzen den Anstieg hoch, und wenn man sich ganz besonders anstrengt, kommt man vielleicht vor den anderen da oben an.

Mit dem Krebs ist das genauso. Auch starke Menschen bekommen Krebs, tun alles, was man tun muß, um ihn zu besiegen, und sterben trotzdem. Das ist eine Grundwahrheit, die man einsehen muß. Wenn man das getan hat, wird einem alles andere ziemlich egal. Es kommt einem nicht mehr so wichtig vor.

Ich weiß nicht, warum ich noch lebe. Ich kann nur raten. Ich bin ziemlich zäh, und in meinem Beruf habe ich gelernt, wie man mit Problemen und Hindernissen fertig wird. Ich mag anstrengendes Training und anstrengende Rennen. Das hat mir geholfen. Es war eine gute Voraussetzung, aber entscheidend war es nicht. Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, daß ich überlebt habe, war doch eher ein glücklicher Zufall.

Als ich 16 war, wurde ich zu einer Testreihe an der Cooper Clinic in Dallas eingeladen. Das ist ein sehr angesehenes Forschungszentrum, wo das Aerobic erfunden wurde. Ein Arzt testete meinen VO2max-Faktor, der zeigt, wieviel Sauerstoff man maximal aufnehmen und nutzen kann. Er sagte, das wären die höchsten Werte, die er je gesehen hätte. Außerdem produzierte ich weniger Milchsäure als die meisten Menschen. Der Körper erzeugt Milchsäure, wenn er arbeitet und dabei müde wird. Milchsäure macht das Stechen in der Lunge und den Muskelkater in den Beinen.

Ich kann mich also sehr stark anstrengen und werde dabei nicht so schnell müde wie die meisten anderen Leute. Vielleicht habe ich auch deshalb überlebt. Ich hatte einfach Glück. Ich bin mit einem außergewöhnlichen Talent zum Atmen auf die Welt gekommen. Aber wie dem auch sei, ich habe eine lange Zeit in einem Nebel aus Krankheit und Verzweiflung verbracht.

Meine Krankheit hat mich vom hohen Roß runtergeholt und mir ist eine Menge klargeworden. Der Krebs hat mich gezwungen, unbarmherzig über mein Leben nachzudenken. Es gibt da ein paar Sachen, auf die ich nicht besonders stolz bin: Manchmal war ich gemein, habe mich um meine Pflichten rumgedrückt, manchmal war ich auch schwach und habe irgendwas nicht getan, was mir heute leid tut. Ich habe mich gefragt: »Was für ein Mensch willst du eigentlich sein – wenn du überhaupt am Leben bleibst?« So langsam wurde mir klar, daß mir zum erwachsenen Mann noch einiges fehlte.

In Wahrheit war der Krebs das Beste, was mir passieren konnte. Ich weiß nicht, warum ich diese Krankheit bekommen habe. Aber sie hat bei mir Wunder gewirkt, und ich will gar nicht, daß es nicht so gekommen wäre. Warum sollte ich mir auch nur einen Tag lang etwas aus meinem Leben wegdenken, und dann noch das wichtigste und prägendste überhaupt?

Aber ich will Ihnen nichts vormachen. Es gibt zwei Lance Armstrongs: den vor dem Krebs und den danach. Die Lieblingsfrage der Leute ist: »Wie hat der Krebs Sie verändert?« Die wirkliche Frage ist aber, inwiefern er mich nicht verändert hat. Am 2. Oktober 1996 ging ich aus meinem Haus, und als ich wiederkam, war ich ein anderer. Ich war ein Weltklassesportler gewesen, mit einer hübschen Villa am Flußufer, einem Porsche in der Garage und einem selbstverdienten Vermögen auf der Bank. Ich gehörte zur Weltspitze der Radrennfahrer, und meine Karriere bewegte sich steil nach oben. Als ich zurückkam, war ich ein total anderer Mensch. Irgendwie ist mein altes Ich tatsächlich gestorben, und mir wurde ein zweites Leben geschenkt. Sogar mein Körper sieht anders aus, denn bei der Chemotherapie verschwanden alle Muskeln, die ich mir antrainiert hatte, und als ich gesund wurde, kamen sie nicht genauso wieder.

Menschen sterben. Manchmal macht mich diese Wahrheit so fertig, daß ich es nicht über mich bringen kann, sie aus“zusprechen. Wozu also weitermachen, fragt man sich dann. Warum lassen wir es nicht einfach gut sein und legen uns dorthin, wo wir gerade sind? Aber es gibt auch noch eine andere Wahrheit: Die Menschen leben, und sie leben auf die bemerkenswerteste Art und Weise. Als ich krank war, habe ich an einem einzigen Tag mehr Schönheit und Triumph erlebt, als je in einem ganzen Radrennen – aber es waren menschliche Augenblicke, keine geheimnisvollen Wunder. Ich habe einen Typen kennengelernt, der in einem ausgeleierten Trainingsanzug rumlief und sich als brillanter Chirurg entpuppte. Ich habe mich mit einer unermüdlichen, überlasteten Krankenschwester namens LaTrice angefreundet, die sich auf eine Art um mich gekümmert hat, die es nur gibt, wenn man mit jemandem tief und mitfühlend verbunden ist. Ich habe Kinder gesehen, ohne Wimpern und ohne Augenbrauen, denen die Chemo die Haare weggebrannt hatte und die mit dem unerschrockenen Herzen eines Miguel Induréain kämpften.

Bis heute habe ich es noch nicht richtig begriffen.

Alles, was ich tun kann, ist, Ihnen die ganze Geschichte der Reihe nach zu erzählen.

Ich hätte natürlich wissen müssen, daß mit mir etwas nicht stimmte. Aber bei Sportlern, und bei Radfahrern ganz besonders, gehört das Verdrängen zum Geschäft. Man verdrängt alle Beschwerden und Schmerzen, weil man das tun muß, sonst würde man das Rennen nicht durchstehen. Dieser Sport ist eine Art Selbstmißbrauch. Man sitzt den ganzen Tag im Sattel, sechs oder sieben Stunden hintereinander, bei jedem Wetter, über Stock und Stein, durch Matsch, Wind und Regen, sogar bei Hagel, und läßt sich vom Schmerz nicht unterkriegen.

Alles tut einem weh, der Rücken, die Füße, die Hände, der Nacken, der Hintern und natürlich die Beine.

Nein, es ist mir damals, 1996, nicht aufgefallen, daß ich mich nicht besonders gut fühlte. Als in diesem Winter mein rechter Hoden leicht anschwoll, sagte ich mir, damit mußt du eben leben. Ich nahm an, ich hätte mir die Schwellung irgendwie beim Radfahren zugezogen, oder es sei eine Reaktion auf irgendwelche männlichen Körpervorgänge. Ich fuhr gute Rennen, hatte eigentlich bessere Bewertungen als je zuvor, und zum Aufhören gab es keinen Grund.

Radrennfahren ist ein Sport, bei dem sich Reife auszahlt. Er verlangt ein körperliches Stehvermögen, das man jahrelang aufbauen muß, und ein Verständnis für Strategie, das man erst mit viel Erfahrung bekommt. Im Jahr 1996 hatte ich allerdings das Gefühl, daß ich mich allmählich meiner Bestform näherte. Im Frühjahr gewann ich das »Flèche – Walonne«, eine mörde“rische Tour durch die Ardennen, die bis dahin noch kein Amerikaner geschafft hatte. Beim klassischen Rennen »Lüttich –

Bastogne – Lüttich« über 267 Kilometer an einem einzigen schweren Tag kam ich als Zweiter ins Ziel. Und bei der »Tour DuPont«, 1960 Kilometer in zwölf Tagen durch die Berge von Carolina, wurde ich Sieger. Außerdem konnte ich noch fünf zweite Plätze einfahren, und ich war zum erstenmal in meiner Karriere kurz davor, in die internationale Spitze der fünf Weltbesten einzubrechen.

Als ich die »Tour DuPont« gewann, fiel den Radsportfans allerdings etwas Ungewöhnliches auf. Wenn ich sonst über den Zielstrich fuhr, pumpte ich normalerweise die Fäuste wie Kolben auf und ab, aber an diesem Tag war ich für Siegeskundgebungen auf dem Rad viel zu erschöpft. Ich hatte blutunterlaufene Augen und einen hochroten Kopf.

Nach meinem ausgezeichneten Frühjahr hätte ich eigentlich zuversichtlich und energiegeladen sein müssen. Statt dessen war ich einfach nur müde. Meine Brustwarzen taten mir weh. Wenn ich besser informiert gewesen wäre, hätte ich gewußt, daß das ein Krankheitszeichen war. Es bedeutete, daß ich einen erhöhten Spiegel des Hormons HCG (Humanes Choriongonadotropin) hatte, das normalerweise von Frauen in der Schwangerschaft produziert wird. Bei Männern kommt es nur in winzigen Mengen vor, es sei denn, ihre Hoden spielen verrückt.

Ich dachte, ich wäre einfach nur erschöpft. »Reiß dich zusammen«, sagte ich zu mir, »du kannst dir keinen Durchhänger leisten.« Die beiden wichtigsten Rennen der Saison lagen noch vor mir: Die Tour de France und die Sommerolympiade in Atlanta. Nur dafür hatte ich trainiert und war ich Rennen ge“fahren.

Bei der Tour de France mußte ich schon nach fünf Tagen aufgeben. Nachdem ich durch ein Gewitter gefahren war, bekam ich Halsschmerzen und eine Bronchitis. Ich hustete und hatte Schmerzen im Lendenbereich. Ich konnte einfach nicht wieder aufs Rad steigen. »Ich hab´ keine Luft mehr bekommen«, sagte ich zu den Journalisten. Rückblickend waren das schicksalhafte Worte.

In Atlanta ließ mich mein Körper wieder im Stich. Beim Zeitfahren wurde ich Sechster, und beim Straßenfahren kam ich auf den 12. Platz. Insgesamt ganz gut, aber ich hatte einfach mehr erwartet und war enttäuscht.

Als ich wieder in Austin war, schob ich alles auf eine Grippe. Ich schlief viel, alles tat mir weh und mir war irgendwie schwindelig. Ich nahm das alles auf die leichte Schulter und dachte: »Na ja, die Saison war eben ziemlich anstrengend.«

Am 18. September feierte ich meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag. Ein paar Tage später lieh ich mir ein Gerät, um Margarita-Bowle zu machen, feierte in meinem Haus mit Freunden eine große Party, und anschließend ging es noch zu einem Konzert von Jimmy Buffet. Mitten in dieser Nacht sagte ich zu meiner Mutter Linda, die aus Plano herübergekommen war: »Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt.« Ich liebte mein Leben. Ich traf mich mit Lisa Sheils, einer hübschen Studentin an der University of Texas. Ich hatte gerade einen neuen Zweijahresvertrag über 1,25 Millionen Dollar pro Jahr mit dem angesehenen französischen Rennteam Cofidis unterschrieben. Ich hatte ein wunderschönes neues Haus, an dem ich monatelang herumgebaut hatte, bis innen und außen alles bis ins kleinste genau so geworden war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war eine Villa im mediterranen Stil am Ufer des Lake Austin, mit hohen Glasfenstern, durch die man auf den Swimmingpool und eine Art italienischen Innenhof hinaussah, der sich bis zum Bootsanleger hinunterzog, wo mein eigener Jetski und mein Motorboot auf mich warteten.

Der Abend wurde nur durch eines getrübt: Mitten im Konzert bekam ich Kopfschmerzen. Es fing an mit einem dumpfen Pochen. Ich schluckte ein paar Aspirin, die halfen aber nicht. Die Kopfschmerzen wurden sogar schlimmer.

Ich versuchte es mit Ibuprofen. Ich hatte inzwischen vier Tabletten davon intus. Aber die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Ich sagte mir, das sei ein Fall von entschieden zu vielen Margaritas und schwor mir, nie, nie wieder dieses Zeug zu trinken. Mein Freund, Agent und Anwalt Bill Stapleton schnorrte bei seiner Frau Laura ein paar Migränetabletten, die sie in der Handtasche hatte. Ich nahm drei. Auch das half nicht.

Inzwischen war es eine Art von Kopfschmerzen, die man sonst nur im Kino zu sehen bekommt: Die Knie werden weich, man hält sich den Kopf mit beiden Händen und man meint, er platzt.

Schließlich gab ich auf und ging nach Hause. Ich knipste alle Lichter aus, legte mich auf die Couch und bewegte mich nicht. Der Schmerz ließ zwar nicht nach, aber im Verein mit meinem Tequila-Kater hatte er mich so ausgelaugt, daß ich schließlich doch einschlief.

Als ich am nächsten Morgen wach wurde, war es vorbei. In der Küche beim Kaffeekochen kam mir alles ein bißchen verschwommen vor. Die Dinge schienen keine festen Konturen zu haben. »Ich werde wohl langsam alt«, dachte ich. »Vielleicht brauche ich eine Brille.«

Ich hatte für alles eine Entschuldigung.

Ein paar Tage später telefonierte ich im Wohnzimmer mit meinem Freund Bill Stapleton. Plötzlich bekam ich einen hef“tigen Hustenanfall. Ich mußte würgen und spürte einen metallischen und fauligen Geschmack im Mund. »Bleib mal dran«, sagte ich, »hier stimmt was nicht.« Ich rannte ins Bad und hustete ins Waschbecken.

Es war mit Blut gesprenkelt. Ich starrte ins Becken. Ich mußte nochmal husten, und dabei spuckte ich eine rote Lache aus. Ich konnte nicht glauben, daß diese Menge Blut und schleimiges Zeug aus meinem eigenen Körper gekommen sein sollte.

Tief beunruhigt ging ich zurück ins Wohnzimmer und nahm den Hörer. »Bill, ich ruf dich nachher nochmal an«, sagte ich. Sofort, nachdem ich aufgelegt hatte, wählte ich die Nummer von meinem Nachbarn Dr. Rick Parker an, einem guten Freund, der in Austin mein Hausarzt ist. Rick wohnt nur ein Stückchen die Straße hinunter.

»Kannst du mal rüberkommen?« bat ich. »Ich huste Blut.«

Während Rick noch unterwegs war, ging ich wieder ins Bad und betrachtete die blutige Bescherung im Becken. Plötzlich drehte ich den Hahn auf. Ich wollte alles wegspülen. Manchmal tue ich Dinge, ohne vernünftig darüber nachzudenken. Ich wollte nicht, daß Rick das sah. Es war mir unangenehm. Ich wollte, daß es weg war.

Als Rick kam, untersuchte er meine Nase und meinen Mund. Nachdem er mir in den Hals geguckt hatte, wollte er das Blut sehen. Ich zeigte ihm das bißchen, das noch im Becken hing. »Oh Gott«, dachte ich, »ich kann ihm doch nicht sagen, wieviel das gewesen ist, das ist einfach zu ekelig.« Der verbliebene Rest sah nicht besonders beeindruckend aus.

Rick kannte meine Klagen über Stirnhöhlenbeschwerden und Allergien. In Austin gibt es viel Jakobskraut und Pollenflug, und wegen der strengen Dopingvorschriften im Radsport kann ich es mir nicht leisten, Medikamente dagegen zu nehmen. Ich muß es über mich ergehen lassen.

»Die Blutung könnte aus deinen Stirnhöhlen gekommen sein«, meinte Rick. »Du hast ja da einen Bruch.«

»Wunderbar«, sagte ich. »Dann ist es also keine große Sache.«

Ich war sehr erleichtert, ich stürzte mich auf die erste Vermutung, daß es nichts Ernstes wäre, und hakte es ab. Rick knipste seine kleine Stablampe aus, und auf dem Weg zur Tür lud er mich in der kommenden Woche zum Abendessen ein.

Ein paar Abende später fuhr ich mit meinem Motorroller den Hügel runter zu den Parkers. Ich habe etwas übrig für motorisiertes Spielzeug, und der Roller war eins meiner Lieblingsstücke. Aber an diesem Abend tat mir mein Hoden so weh, daß ich kaum auf dem Ding sitzen konnte.

Auch bei den Parkers hatte ich große Mühe, einigermaßen bequem am Eßtisch zu sitzen. Ich mußte genau die richtige Sitzposition finden, und dann durfte ich mich nicht mehr bewegen. Es tat einfach höllisch weh.

Fast hätte ich Rick gesagt, was mit mir los war, aber ich hatte zu große Hemmungen. Über so was unterhält man sich wohl kaum beim Abendessen, und ich hatte ihn ja schon mit dem Blut belästigt. »Er denkt sonst bestimmt, ich wäre ein Jammerlappen«, dachte ich bei mir. »Halt lieber den Mund.«

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war einer meiner Hoden furchterregend angeschwollen, er war fast so groß wie eine Apfelsine. Ich zog mich an, nahm mein Rad von seinem Halter in der Garage herunter und machte mich auf meine übliche Trainingsrunde. Aber ich merkte, daß ich nicht auf dem Sattel sitzen konnte. Ich mußte die ganze Runde in den Pedalen stehen. Als ich am frühen Nachmittag nach Hause kam, rief ich zögernd wieder bei den Parkers an.

»Rick, mit einem meiner Hoden stimmt was nicht«, sagte ich. »Es ist sehr angeschwollen, und ich mußte die ganze Strecke im Stehen fahren.«

Rick war sehr ernst. »Das mußt du sofort untersuchen lassen«, meinte er.

Er wollte mir unbedingt noch am selben Nachmittag einen Termin bei einem Spezialisten machen. Wir legten auf, und er rief Dr. Jim Reeves an, einen prominenten Urologen aus der Stadt. Als Rick ihm meine Beschwerden geschildert hatte, sagte Dr. Reeves, ich solle sofort zu ihm kommen. Er würde mir einen Termin freihalten. Rick rief mich an und sagte, Dr. Reeves vermute zwar bei mir nur eine Torsion, eine Drehung des Hodens, aber ich sollte hinkommen und es untersuchen lassen. Wenn ich mich nicht darum kümmern würde, könnte ich den Hoden verlieren.

Ich duschte und zog mich an, nahm die Autoschlüssel und setzte mich in meinen Porsche, und merkwürdigerweise weiß ich noch genau, was ich anhatte: Khakihosen und ein grünes Hemd drüber. Die Praxis von Dr. Reeves lag in der Innenstadt von Austin in der Nähe der University of Texas in einem unauffälligen Klinikgebäude aus braunem Klinker.

Dr. Reeves war ein älterer Herr mit einer tiefen, angenehmen Stimme, die tief aus einem Brunnenschacht zu kommen schien. In seiner ärztlich-beflissenen Art wirkte bei ihm alles wie Routine – obwohl er von dem, was er bei der Untersuchung sah, ernsthaft alarmiert war.

Mein Hoden war auf das Dreifache der normalen Größe geschwollen, hart und äußerst berührungsempfindlich. Dr. Reeves machte ein paar Notizen und Messungen. »Das sieht mir etwas verdächtig aus«, meinte er. »Zur Sicherheit schicke ich Sie rüber zur Ultraschalluntersuchung, das ist gleich gegenüber.«

Ich zog mich wieder an und ging zu meinem Auto. Das Institut lag auf der anderen Seite einer breiten Straße in einem anderen klinikartigen braunen Klinkerbau. Ich beschloß, mit dem Auto hinüberzufahren. Das Gebäude war ein kleiner Bienenstock aus lauter Büros und Räumen, die mit komplizierten medizinischen Geräten vollgestopft waren. Wieder legte ich mich auf einen Untersuchungstisch.

Eine MTA, eine medizinisch-technische Assistentin, kam herein und untersuchte mich mit dem stabförmigen Instrument des Ultraschallgeräts, das ein Bild in einen Monitor einspeist. Ich hatte geglaubt, ich wäre in ein paar Minuten wieder draußen. Nur eine Routineuntersuchung zur Beruhigung des Arztes.

Eine Stunde später lag ich immer noch auf dem Tisch.

Die MTA wollte offenbar jeden Millimeter von mir untersuchen. Ich lag stumm da und bemühte mich, gelassen zu bleiben. Warum dauerte das so lange? Hatte sie was gefunden?

Dann legte sie den Stab weg und ging, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Zimmer. »Moment mal«, rief ich. »Hey!«

»Verdammt, ich denke, das war nur eine Formsache«, dachte ich. Nach einiger Zeit kam die MTA mit einem Mann zurück, den ich dort schon vorher gesehen hatte. Es war der Chefradiologe. Er nahm den Stab und fing nun seinerseits an, meine Geschlechtsteile zu untersuchen. Eine weitere Viertelstunde verging. »Warum dauert das so lange?«

»Gut, Sie können sich jetzt anziehen und wieder rauskommen«, sagte er.

Ich streifte hastig meine Sachen über und ging zu ihm raus auf den Flur.

»Wir müssen noch Ihren Oberkörper röntgen«, meinte er.

Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Wieso denn das?« wollte ich wissen.

»Dr. Reeves hat darum gebeten«, war die Antwort.

Wozu wollen die sich meine Brust ansehen? Da tat mir doch nichts weh. Wieder ging es in ein Untersuchungszimmer, und ich zog mich aus. Eine andere medizinisch-technische Assistentin besorgte das Röntgen.

Ich wurde langsam wütend und wußte noch nicht mal, warum. Wieder zog ich mich an und stelzte zum Institutsbüro. Am Ende des Flurs sah ich den Chefradiologen stehen.

»Hey«, rief ich und knöpfte ihn mir vor.

»Was passiert hier eigentlich?« fragte ich. Mein Ton war gereizt. »Das ist doch nicht normal!«

»Nun ja, ich möchte Dr. Reeves nicht vorgreifen«, sagte er, »aber er scheint bei Ihnen möglicherweise einen krebsbezogenen Befund abklären zu wollen.«

Ich stand wie angewurzelt da.

»Ach, du Scheiße«, sagte ich.

»Sie müssen die Röntgenaufnahmen gleich zu Dr. Reeves mitnehmen. Er wartet auf Sie in seiner Praxis«, sagte der Arzt.

In meiner Magengrube spürte ich einen kleinen Eisblock, der langsam größer wurde. Ich nahm mein Handy und wählte die Nummer von Rick.

»Rick, hier stimmt was nicht, aber keiner will damit rausrücken«, sagte ich.

»Lance, ich kann nicht viel dazu sagen«, antwortete er, »aber ich möchte dabeisein, wenn du gleich zu Dr. Reeves gehst. Warte da auf mich.«

»Okay«, sagte ich. Während die Aufnahmen entwickelt wurden, wartete ich im Röntgeninstitut. Endlich kam der Radiologe, gab mir einen großen braunen Umschlag und sagte, Dr. Reeves würde mich in seiner Praxis erwarten. Ich starrte den Umschlag an. Ich begriff: Das da drin ist meine Brust.

»Es sieht nicht gut aus«, dachte ich und stieg in mein Auto. Ich schaute auf den braunen Umschlag mit den Röntgenaufnahmen von meiner Brust. Bis zur Praxis von Dr. Reeves waren es nur knapp 200 Meter, aber es kam mir weiter vor. Wie zwei Kilometer. Oder zwanzig.

Ich fuhr die kurze Strecke und parkte den Wagen. Die normalen Öffnungszeiten waren längst vorbei. »Wenn Dr. Reeves auf mich gewartet hat, diese ganze lange Zeit, dann muß es dafür einen guten Grund geben«, dachte ich. »Das kann nur heißen, gleich kommt der dicke Hammer.«

Als ich zur Praxis von Dr. Reeves ging, merkte ich, daß das Gebäude leer war. Alle waren schon gegangen. Draußen war es inzwischen dunkel geworden.

Rick kam, er sah ziemlich ernst aus. Ich hockte mich auf einen Stuhl, Dr. Reeves machte den Umschlag auf und zog die Röntgenaufnahmen von meiner Brust heraus. Eine Röntgenaufnahme sieht aus wie das Negativ zu einem normalen Schwarzweiß-Foto. Alles, was nicht normal ist, zeichnet sich in weißen Abstufungen darauf ab. Ein schwarzes Bild ist in Wirklichkeit gut, weil es bedeutet, daß die Organe sauber sind. Schwarz ist gut. Weiß ist schlecht.

Dr. Reeves klemmte die Aufnahmen in den Leuchtrahmen an der Wand.

In meiner Brust sah es aus wie bei einem Schneesturm.

»Also, die Lage ist ernst«, erklärte Dr. Reeves. »Sieht aus wie Hodenkrebs mit ausgedehnten Metastasen in der Lunge.«

»Ich habe Krebs«, durchfuhr es mich.

Ich fragte: »Sind Sie sicher?«

»Ziemlich sicher«, antwortete er.

»Ich bin erst 25. Warum sollte ausgerechnet ich Krebs haben?« dachte ich.

»Sollte ich nicht noch eine zweite Meinung einholen?« schlug ich vor.

»Natürlich«, sagte Dr. Reeves. »Dazu haben Sie jedes Recht. Aber Sie sollten wissen, daß ich mir meiner Diagnose sicher bin. Ich habe Sie für morgen früh um sieben zur Operation angemeldet, um den Hoden zu entfernen.«

»Ich habe Krebs, und er steckt schon in meiner Lunge«, schoß es mir durch den Kopf.

Dr. Reeves erläuterte seine Diagnose: Hodenkrebs sei eine seltene Erkrankung. In den Vereinigten Staaten träten jährlich nur etwa 7000 Fälle auf. Meistens wären junge Männer im Alter zwischen 18 und 25 Jahren betroffen. Dank der Fortschritte auf dem Gebiet der Chemotherapie gelte er als eine sehr gut therapierbare Krebsform, aber der entscheidende Faktor wäre ein frühes Eingreifen. Niemand könne wissen, wie schnell er voranschreite. Dr. Reeves war sicher, daß ich Krebs hatte. Die Frage war, wie weit er sich schon ausgebreitet hatte. Er empfahl mir, zu Dr. Dudley Youman zu gehen, einem renommierten Onkologen aus der Stadt, der auch Lady Bird Johnson behandelt hatte. Rasches Handeln sei angesagt, jeder Tag zähle. Damit beendete Dr. Reeves seine Ausführungen.

Ich sagte gar nichts.

»Ich laß Sie beide mal für ein paar Minuten allein«, sagte Dr. Reeves.

Als ich mit Rick allein war, sank mir der Kopf auf den Schreibtisch.

»Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte ich.

Aber ich mußte zugeben, ich war krank. Die Kopfschmerzen, das Blutspucken, der gereizte Hals, auf die Couch fallen und endlos schlafen – ich fühlte mich krank, und das schon seit einiger Zeit.

»Lance, hör gut zu, bei der Behandlung von Krebs sind enorme Fortschritte gemacht worden«, sagte Rick. »Krebs ist heilbar. Wir werden alle Hebel in Bewegung setzen. Wir schaffen das.«

»Okay«, sagte ich. »Okay.«

Rick rief Dr. Reeves wieder herein. »Was soll ich tun?« fragte ich. »Los geht´s. Wir machen den Krebs fertig. Egal, was zu tun ist, wir machen das!«

Ich wollte sofort geheilt werden. Auf der Stelle. Ich hätte mich noch in dieser Nacht operieren lassen. Ich hätte mich selbst ins Krankenhaus eingeliefert und eigenhändig die Strahlenkanone eingeschaltet, wenn es was geholfen hätte. Aber Dr. Reeves erklärte mir geduldig das weitere Vorgehen, das mir am nächsten Morgen bevorstand: In der Früh mußte ich im Krankenhaus antreten zu einer ganzen Latte von Tests und Blutuntersuchungen, damit der Onkologe abschätzen konnte, wie weit der Krebs war, und dann würde der Hoden operativ entfernt.

Ich stand auf und ging. Ich hatte jede Menge Anrufe zu erledigen, einen davon bei meiner Mutter. Ich mußte ihr irgendwie beibringen, daß ihr Sohn – ihr einziges Kind – Krebs hatte.

Ich stieg in mein Auto und machte mich auf den kurvigen, baumbestandenen Straßen auf den Heimweg zu meinem Haus hoch über dem See. Zum erstenmal in meinem Leben fuhr ich langsam. Ich stand unter Schock. Ich dachte: »Oh Mann, ich werde nie wieder Rennen fahren können« – nicht etwa: »Oh Mann, ich werde sterben«, oder: »Oh Mann, ich werde nie eine Familie haben.« Irgendwo tief in mir ging alles durcheinander. Aber der erste Gedanke war: »Oh Mann, ich werde nie wieder Rennen fahren können.« Ich griff zum Autotelefon und wählte die Nummer von Bill Stapleton.

»Bill, es gibt böse Neuigkeiten«, sagte ich.

»Was ist los?« fragte er geistesabwesend.

»Ich bin krank«, sagte ich. »Mit meiner Karriere ist´s aus.«

»Was?« rief er.

»Es ist alles vorbei«, sagte ich. »Ich bin krank, ich werde nie wieder Rennen fahren können, und ich werde alles verlieren.«

Ich legte auf.

Im ersten Gang schlich ich durch die Straßen. Ich konnte einfach kein Gas geben. Ich holperte dahin und bekam Zweifel an allem. Als ein Fünfundzwanzigjähriger, den nichts umwerfen konnte, hatte ich mein Haus verlassen. Nicht kaputt zu machen. Der Krebs würde alles über den Haufen werfen. Er würde nicht nur meine Karriere beenden, er würde überhaupt alles, worauf mein Selbstwertgefühl beruhte, zerstören. Ich hatte mit nichts angefangen. Meine Mutter war eine Sekretärin in Plano in Texas. Aber auf meinem Rennrad war ich jemand geworden. Wenn andere Jungen nach der Schule im Country Club im Pool herumplanschten, saß ich Kilometer um Kilometer auf dem Rad, denn das war meine Chance. Jede Trophäe und jeder Dollar, die ich je bekommen hatte, waren mit Fässern von Schweiß erkauft. Was sollte ich jetzt machen? Was würde aus mir werden, wenn ich nicht mehr Lance Armstrong, der Weltklasseradfahrer, der schnellste und härteste Bursche überhaupt war?

Ein kranker Mensch.

Ich fuhr die Auffahrt zu meinem Haus rauf. Drinnen klingelte das Telefon. Ich ging rein und warf die Schlüssel auf den Tisch. Das Telefon klingelte immer noch. Ich ging dran. Es war mein Freund Scott McEachern. Die Firma Nike hatte ihn als ihren Repräsentanten für die Zusammenarbeit mit mir abgestellt.

»Hey, Lance, was ist los?« fragte Scott.

»Eine Menge«, knurrte ich. »Nicht zu knapp.«

»Was soll das heißen?« erkundigte er sich.

»Ich, äh...«, ich brach ab.

Bis jetzt hatte ich das Wort noch nicht laut ausgesprochen.

»Was ist denn?« fragte Scott.

»Ich hab´ Krebs«, sagte ich.

Ich fing an zu weinen.

Und dann, in diesem Augenblick, dämmerte es mir: Ich würde vielleicht mein Leben verlieren. Nicht nur meinen Sport.

Ich kann sterben!

...

Kapitel 8 Zurück ins Leben

Als ich krank war, habe ich mir geschworen, nie mehr zu fluchen, nie wieder Bier zu trinken und nie mehr auszuflippen. Ich war dabei, der beste und anständigste Bursche zu werden, den man sich vorstellen kann. Aber das Leben geht weiter. Die Dinge ändern sich, und man vergißt seine guten Vorsätze. Und dann wird eben doch wieder geflucht und Bier getrunken.

Wie konnte ich so schnell wie möglich wieder normal leben? Das war mein Hauptproblem nach dem Krebs. Es gibt den Spruch, daß man jeden Tag so leben soll, als wäre es der letzte. Aber das half mir auch nicht weiter. Es ist bestimmt gut gemeint, aber in der Praxis funktioniert es nicht. Wenn ich nur für den Augenblick leben würde, wäre ich bloß noch eine liebenswürdige Niete mit einem ewigen Dreitagebart am Kinn. Ehrlich, ich hab´s versucht.

Die Leute denken, das Comeback von Lance Armstrong wäre ein großer Triumph gewesen, aber am Anfang war es die reine Katastrophe. Wenn man ein ganzes Jahr lang Angst vor dem Tod gehabt hat, meint man, für den Rest des Lebens Anspruch auf Dauerurlaub zu haben. Das geht natürlich nicht. Man muß wieder zu seiner Familie zurück, zu seinen Freunden und seinem Beruf. Aber ein Teil von mir wollte mein altes “Leben nicht zurückhaben.

Im Januar zogen wir mit dem U.S. Postal-Troß nach Europa. Kik kündigte ihren Job, gab ihren Hund weg, vermietete ihr Haus und packte alles zusammen, was sie besaß. In Cap Ferrat, auf halbem Weg zwischen Nizza und Monaco, mieteten wir uns eine Wohnung. Dann ließ ich sie eine Weile allein und ging mit dem Team auf die Straße. Radrennen sind nichts für Ehefrauen oder Freundinnen. Das war das gleiche wie im Büro; es war mein Job, und man nimmt seine Frau ja auch nicht mit in den Konferenzraum.

Kristin war auf sich allein angewiesen in einem fremden Land, ohne Freunde oder Familie, und sie konnte die Sprache nicht. Aber sie reagierte typisch: Sie meldete sich sofort zu einem Französisch-Intensivkurs an, richtete die Wohnung ein und stürzte sich in die ganze Sache wie in ein großes Abenteuer, ohne das kleinste bißchen Angst. Nicht ein einziges Mal jammerte sie herum. Ich war stolz auf sie.

Ich selber war nicht so gut drauf. Auf der Straße lief es nicht so recht, weil ich mich erst wieder an die Strapazen von Straßenrennen durch Europa gewöhnen mußte. Ich hatte vergessen, wie das war. Das letzte Mal, als ich auf dem Kontinent war, hatte ich mit Kik Urlaub gemacht. Wir hatten in den besten Hotels übernachtet und wie Touristen gelebt. Aber jetzt war wieder das Gegenprogramm angesagt: widerliches Essen, unbequeme Betten in schäbigen, kleinen Hotels und ständiges Herumreisen. Ich mochte das überhaupt nicht.

Tief innerlich war ich nicht bereit. Damals verstand ich noch nicht besonders viel vom Überleben, sonst wäre mir klar gewesen, daß ich bei meinem Comeback-Versuch notwendigerweise psychische Probleme bekommen mußte. Wenn ich einen schlechten Tag hatte, jammerte ich oft: »Ach, ich hab eben zuviel durchgemacht. Ich hab drei Operationen, drei Monate Chemo und ein höllisches Jahr hinter mir. Kein Wunder, daß ich schlecht fahre. Mein Körper ist eben nicht mehr der alte.« Eigentlich hätte ich sagen sollen: »Was soll´s, ich hatte eben einen schlechten Tag.«

Ich fuhr herum mit unterdrückten Selbstzweifeln und auch einer tief vergrabenen Wut. Ich bekam nur einen Bruchteil von dem, was ich früher verdient hatte. »80-Prozent Krebssteuer«, dachte ich sarkastisch. Und neue Verträge waren immer noch nicht in Sicht. Ich hatte mir das alles so vorgestellt: In dem Moment, wo ich wieder aufs Rad steige und mein Comeback verkünde, rennt mir ganz Amerika die Tür ein. Als das nicht passierte, gab ich Bill die Schuld dafür. Ich machte ihn völlig verrückt mit meinen ständigen Fragen, warum er mir keine Verträge “anbrachte. Irgendwann kam es zu einem heftigen Streit am Telefon – ich in Europa, er in Texas. Wieder mal beklagte ich mich lang und breit darüber, daß sich an der Vertragsfront nichts tat.

»Hör mal, ich sag dir was«, sagte Bill, »ich such dir einen neuen Manager. Ich mach das nicht länger mit. Ich weiß, du glaubst, ich hätte es nötig. Da täuscht du dich aber. Ich kün“dige.«

Ich schwieg. Dann sagte ich: »Also, das möchte ich aber nicht.«

Von da an ließ ich Bill in Ruhe, aber ich war immer noch stinksauer, daß niemand mich wollte. Kein europäisches Team, und auch nicht das vereinte Amerika.

Mein erstes Profirennen nach 18 Monaten war die »Ruta del Sol«, ein Fünftagerennen durch Spanien. Ich kam auf den 14. Platz, und das war eine Sensation. Trotzdem war ich deprimiert und unzufrieden. Ich war daran gewöhnt, vorn zu liegen und nicht auf dem 14. Platz zu enden. Außerdem haßte ich den ganzen Rummel um mich bei diesem ersten Rennen. Ich fühlte mich gestreßt durch den Leistungsdruck und ärgerte mich über den Medienzirkus. Am liebsten wäre ich unangekündigt aufgetaucht, hätte ohne Kommentar mein Rennen gefahren und mich allein durch meine Selbstzweifel gekämpft. Ich wollte einfach nur im Peloton mitfahren und meine Beine wieder spüren.

Zwei Wochen später startete ich im »Paris – Nizza«. Es ist eins der schwierigsten Etappenrennen überhaupt, abgesehen von der Tour de France. Eine achttägige Strapaze, die berüchtigt ist wegen der winterlich rauhen Wetterbedingungen. Vor dem eigentlichen Rennen fand der sogenannte Prolog statt, ein Einzelzeitfahren. Das ist eine Art Ausleseverfahren, nach dem bestimmt wird, welcher Fahrer an der Spitze des Feldes fährt. Ich machte den 19. Platz, nicht schlecht für einen, der gerade vom Krebs geheilt war. Aber ich sah das nicht so. Ich war daran gewöhnt zu gewinnen.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war der Himmel grau, es wehte ein scharfer Wind und die Temperatur lag um Null. Als ich die Augen aufgemacht hatte, wußte ich sofort, daß ich bei diesem Wetter nicht fahren wollte. Mürrisch verdrückte ich mein Frühstück. Dann traf ich mich mit dem Team, um die Strategie für diesen Tag zu besprechen. Einstimmig beschlossen wir, daß wir auf George Hincapie, unseren Kapitän, warten und ihn wieder nach vorn ziehen wollten, wenn er aus irgendeinem Grund zurückfallen sollte.

Dann setzte ich mich im Startbereich in einen Wagen und versuchte, warm zu bleiben. Ich wäre am liebsten sonstwo gewesen, bloß nicht dort. Solche Gedanken machten es natürlich auch nicht besser. Draußen in der Kälte wurde meine Laune noch schlechter. Mißmutig streifte ich mir Legwarmers über und versuchte, einen winzigen Fleck meiner Haut trocken zu halten.

Wir brachen zu einer langen, ebenen Etappe auf. Der Regen peitschte von der Seite, und durch den scharfen Wind kam es einem noch kälter vor. Es gibt nichts, was einen mehr runterzieht als ein lange, flache Straße im Regen. An einer Steigung bleibt der Körper wenigstens ein bißchen warm, weil man sich anstrengen muß, aber auf einer flachen Straße dringen einem Kälte und Nässe bis in die Knochen. Da helfen keine Überschuhe, und keine Jacke ist gut genug. Früher hätte ich mich darum gerissen, Bedingungen auszuhalten, die jeden anderen geschafft hätten. Aber nicht an diesem Tag.

Hincapie hatte eine Reifenpanne.

Wir bremsten. Das Hauptfeld schoß an uns vorbei. Als wir wieder in Fahrt kamen, lagen wir 20 Minuten hinter der Spitze. Und bei diesem Wind würden wir uns eine Stunde brutal abstrampeln müssen, um wieder aufzuholen. Wir fuhren weiter, die Köpfe gegen den Regen gestemmt.

Der Seitenwind schnitt durch meine Kleidung, und ich konnte das Rad fast nicht mehr halten, als ich am Straßenrand entlangschlingerte. Plötzlich legte ich meine Hände oben auf den Lenker, richtete mich im Sattel auf und ließ das Rad über den Rand rollen.

Ich fuhr auf den Seitenstreifen. Ich gab auf. Ich verließ das Rennen. Ich zog mir die Nummer vom Trikot und dachte: »So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt, frierend, naß bis auf die Knochen und in der Gosse.«

Frankie Andreu war direkt hinter mir. Er erzählte mir später, wie das ausgesehen hatte, als ich mich aufrichtete und auf die Seite fuhr. Er hatte bei sich gedacht: »Der wird eine ganze Weile kein Rennen mehr fahren – wenn überhaupt noch mal. Er ist fertig.«

Als die anderen nach dem Ende der Etappe ins Hotel zurückkamen, packte ich bereits meine Sachen. »Ich geb auf«, sagte ich zu Frankie. »Keine Rennen mehr. Ich fahr nach Hause.« Es war mir egal, ob meine Kameraden mich verstanden oder nicht. Ich verabschiedete mich, hängte mir meine Tasche über die Schulter und verschwand.

Die Entscheidung aufzuhören hatte nichts damit zu tun, wie ich mich körperlich fühlte. Ich war stark, aber ich wollte nicht mehr mitmachen. Ich wußte einfach nicht, ob ich mich für den Rest meines Lebens auf dem Rad durch Kälte und Schmerzen strampeln wollte.

Kik war gerade nach der Sprachschule etwas einkaufen, als ich sie auf ihrem Handy anrief. »Ich komm heute abend nach Hause«, sagte ich. Sie verstand mich nicht, weil der Empfang nicht besonders gut war und fragte: »Was? Was ist los?«

»Das erzähl ich dir später«, sagte ich.

»Bist du verletzt?« Sie dachte, ich hätte einen Unfall gehabt.

»Nein, ich bin nicht verletzt. Bis heute abend.«

Ein paar Stunden später holte Kik mich am Flughafen ab. Wir sprachen nicht viel, bis wir im Auto saßen und auf dem Weg nach Hause waren. Schließlich sagte ich: »Weißt du, es macht mir einfach keinen Spaß mehr.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich noch habe, aber die möchte ich nicht auf dem Rad verbringen. Ich hasse es. Ich hasse die Strapazen. Ich hasse es, von dir getrennt zu sein. Ich hasse das ganze Leben hier. Ich will nicht in Europa bleiben. Bei der ›Ruta del Sol‹ hab´ ich es mir bewiesen, ich hab´ gezeigt, daß ich zurückkommen und es schaffen kann. Jetzt brauch´ ich mir selber nichts mehr beweisen, und den anderen Krebskranken auch nicht. Das war´s.«

Ich machte mich darauf gefaßt, daß sie mir Vorwürfe machen würde: »Und was ist mit meinem Kurs, und was mit meinem Job? Warum bin ich dann überhaupt mitgegangen?« Aber das sagte Kik nicht. Ruhig antwortete sie: »Also gut.«

Im Flugzeug nach Cap Ferrat hatte ich eine Harley-Davidson-Reklame gefunden, die genau das ausdrückte, was ich fühlte: »Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich...« Und dann wurden verschiedene Beispiele genannt wie »mehr Sonnenuntergänge betrachten«. Ich hatte es aus der Zeitschrift rausgerissen, und als ich nun versuchte, Kik meine Gefühle zu erklären, gab ich ihr die Anzeige und sagte: »Genau das ist es, was mit dem Radfahren nicht stimmt. So soll mein Leben nicht aussehen.«

»Laß uns drüber schlafen und ein paar Tage warten, bevor wir uns entscheiden«, antwortete sie.

Am nächsten Tag ging Kik wieder in ihre Sprachschule, und ich saß allein und untätig zu Hause. Ich wollte mein Rad nicht einmal sehen. In der Sprachschule war es streng verboten, im Unterricht mit dem Handy zu telefonieren. Trotzdem rief ich sie dreimal an. »Ich halt es nicht aus, hier rumzusitzen und nichts zu tun«, sagte ich. »Ich hab mit dem Reisebüro gesprochen. Wir reisen ab.«

Kik sagte: »Ich habe Unterricht.«

»Ich hole dich ab. Die Schule ist doch nur Zeitverschwendung.«

Kik ging aus dem Klassenzimmer, setzte sich draußen auf eine Bank und weinte. Seit Wochen kämpfte sie nun mit dieser Sprache. Sie hatte uns ein Zuhause geschaffen, gelernt, mit der fremden Währung umzugehen und herausgefunden, wo sie am besten einkaufen konnte. Sie hatte gelernt wie man auf der »autoroute« fährt und die französischen Mautgebühren bezahlt. Und nun war ihre ganze Mühe umsonst gewesen.

Als ich sie abholen kam, weinte sie immer noch. Beunruhigt fragte ich: »Warum weinst du denn?«

»Weil wir abreisen müssen«, sagte sie.

»Wie meinst du das? Du hast hier keine Freunde. Du kannst kein Französisch. Du hast hier keinen Job. Warum willst du hierbleiben?«

»Weil ich das nun mal angefangen habe und es nun auch zu Ende bringen möchte. Aber wenn du meinst, wir müssen gehen, dann gehen wir eben.«

Der Abend war der Anfang eines Packmarathons. Kik machte sich mit der gleichen Energie daran wie ans Auspacken. Innerhalb von 24 Stunden hatten wir mehr geschafft als die meisten Menschen in zwei Wochen. Wir riefen Kevin Livingston an und übergaben ihm unseren ganzen Hausrat: Handtücher, Silber, Lampen, Schüsseln, Töpfe, Teller, Staubsauger. Ich sagte zu ihm: »Wir kommen nicht mehr wieder. Ich will diesen Krempel nicht behalten.« Kevin versuchte erst gar nicht, mich um“zustimmen – er wußte es besser. Er war im Gegenteil sehr schweigsam. Ich konnte an seinem Gesicht sehen, daß er meine Entscheidung für falsch hielt, aber er sagte kein Wort. Er hatte mein Comeback immer skeptisch gesehen und gesagt: »Paß auf deinen Körper auf. Take it easy.« Er hatte meine ganze Leidensgeschichte mit mir durchlebt und sich immer Sorgen um meine Gesundheit gemacht. Als ich ihm die Kartons in die Arme drückte, sah er so traurig aus, daß ich schon dachte, er würde gleich in Tränen ausbrechen. »Hier«, sagte ich und drückte ihm einen Karton mit Küchenkram in die Arme, »du kannst alles haben.«

Es war ein Alptraum. Meine einzige gute Erinnerung an diese Zeit ist die an Kik, und wie sie in dem ganzen Chaos, das ich anstiftete, die Ruhe behielt. Ich hätte es ihr nicht übelgenommen, wenn sie zusammengebrochen wäre. Sie hatte ihre Arbeitsstelle gekündigt, war nach Frankreich gezogen, hatte alles aufgegeben, und quasi über Nacht wollte ich nach Austin zurück und meine Karriere an den Nagel hängen. Aber sie hielt zu mir. Sie war verständnisvoll, unendlich geduldig und unterstützte mich in allem.

Zu Hause in Amerika wunderten sich alle, wo ich abgeblieben war. Bei Carmichael zu Hause klingelte morgens um acht das Telefon. Ein französischer Journalist fragte ihn: »Wo ist Armstrong?« Chris antwortete: »Er ist beim Paris – Nizza-Rennen.« Der Journalist sagte in gebrochenem Englisch: »Nein, er ist ausgestiegen.« Chris legte auf. Eine Minute später klingelte es wieder – noch ein französischer Journalist.

Chris rief Bill Stapleton an, aber der hatte nichts von mir gehört. Auch Och wußte nichts. Chris versuchte es über meine Handynummer und in meiner Wohnung in Frankreich. Keine Antwort. Er hinterließ mir Nachrichten, auf die ich nicht reagierte, und das war ungewöhnlich.

Irgendwann rief ich Chris vom Flughafen aus an und sagte: »Wir fliegen nach Hause. Ich mach´ das nicht mehr mit. Ich brauch´ die schäbigen Hotels, dieses Wetter und das miese Essen nicht. Was soll mir das bringen?«

Chris sagte: »Lance, tu, was du willst. Aber nicht Hals über Kopf.« Ruhig sprach er weiter und versuchte, ein bißchen Zeit herauszuschinden. »Kein Wort zur Presse, keine Verlautbarungen, kein Wort, daß du aufhören willst«, warnte er mich.

Nachdem ich mit Chris gesprochen hatte, erreichte ich Stapleton. »Ich bin so was von fertig«, sagte ich. »Ich hab ihnen bewiesen, daß ich ein Comeback schaffe, und jetzt bin ich fertig.«

Bill blieb ganz cool. »Okay«, sagte er. Er hatte schon mit Chris gesprochen und war über alles informiert. Ebenso wie Chris versuchte er mich hinzuhalten. »Und wie sollen wir das verkaufen?«

Bill schlug vor, mit einer Presseerklärung noch zu warten. »Eine Woche oder so, Lance. Das ist einfach zu verrückt im Moment.«

»Du verstehst mich nicht. Ich will jetzt Schluß machen, jetzt sofort.«

»Lance«, sagte Bill, »ich hab es kapiert, du willst aufhören. Okay, aber vorher müssen wir noch über ein paar Dinge reden. Warte einfach noch ein paar Tage.«

Dann rief ich Och an. Wir hatten eins unserer typischen Gespräche.

»Ich habe ›Paris – Nizza‹ geschmissen.«

»Das ist auch kein großes Ding.«

»Ich bin draußen. Ich fahre keine Rennen mehr.«

»Darüber solltest du nicht heute entscheiden.«

Kik und ich flogen nach Austin und hatten einen fürchterlichen Jetlag. Als wir nach Hause kamen, klingelte das Telefon ununterbrochen. Man wollte wissen, wo ich war und warum ich verschwunden war. Als es endlich ruhiger wurde, schliefen wir unseren Jetlag aus und trafen uns am nächsten Tag mit Bill in seiner Kanzlei in der Stadt.

Ich sagte: »Ich bin nicht hier, um über meinen Ausstieg zu diskutieren. Das ist entschieden. Ich bin fertig damit, und es ist mir egal, was du darüber denkst.«

Bill sah Kik an, und sie sah ihn an und zuckte die Schultern. Beide wußten sie, daß man mit mir in dieser Stimmung nicht reden konnte. Kik war inzwischen nur noch ein Schatten ihrer selbst, erschöpft und frustriert. Aber ihr Blick sprach Bände: »Hab Geduld mit ihm, er ist völlig von der Rolle.«

Bevor Bill wieder etwas von sich gab, vergingen vielleicht 20 Sekunden. Dann sagte er: »Also, wir müssen wenigstens eine Pressekonferenz geben, ganz offiziell. Am besten, wir machen uns gleich an die Arbeit.«

»Warum nicht einfach eine Pressemitteilung?«

»Find´ ich nicht gut.«

»Warum?«

»Dieses Ruta del Sowieso und Paris – Dingsbums, das kennst vielleicht du. Aber in Amerika hat kein Mensch irgendwas davon gehört. Kein Mensch weiß, daß du wieder gefahren bist. Du mußt eine Pressekonferenz abhalten und der Welt mitteilen, daß du den Radsport aufgibst. Ich weiß, du hast dein fabelhaftes Comeback gehabt. Das ist schon richtig. Ein Wunder, was du geleistet hast. Allein der Sieg über den Krebs ist ein Comeback. Aber das weiß kein Mensch.«

»Bei der ›Ruta del Sol‹ bin ich vierzehnter geworden«, verteidigte ich mich.

»Lance«, sagte Bill, »du wirst der Kerl sein, der den Krebs “besiegt hat und nie mehr gefahren ist. Das ist es, was sich die Leute merken.«

Wieder entstand eine lange Pause. Kik stiegen Tränen in die Augen.

»Also«, sagte ich zögernd, »so geht das natürlich nicht.«

Stapleton zog mich über den Tisch. Er fand tausend Dinge, die erledigt werden müßten, bevor ich offiziell abtreten konnte. »Ich weiß, du willst dich zurückziehen. Hast du dir aber mal überlegt, wie du dich zurückziehen willst?« Er schlug eine Live-Pressekonferenz vor und meinte, wir müßten mit Sponsoren verhandeln. Dann sagte er: »Und wie wäre es mit einem Abschiedsrennen?« Ich könne unmöglich aus dem Aktivsport ausscheiden, ohne in den USA noch einmal aufgetreten zu sein.

»Wie wär´s mit den ›National Championships‹ im Juni, die würden sich als Abschiedsrennen doch anbieten?« schlug er vor. »Du hättest gute Gewinnchancen, das weißt du. Das wäre ein Comeback, an das sich die Leute lange erinnern.«

»Also, ich weiß nicht«, sagte ich. »Eigentlich will ich überhaupt nicht mehr aufs Rad.«

Geduldig brachte Bill mich dazu, die Mitteilung über mein Ausscheiden noch aufzuschieben. Mit jedem weiteren Argument schindete er mehr Zeit heraus. Frühestens konnte ich nach dem »Ride for the Roses« ausscheiden, also erst im Mai.

Schließlich hatte Bill mich so weit. Ich versprach ihm, bis auf weiteres nichts zu sagen. Und inzwischen wollte ich erst mal ein paar Tage frei machen.

Das Postal Team hatte Geduld mit mir. Tom Weisel war bereit zu warten. Doch aus den paar Tagen wurde eine Woche, aus der Woche wurde ein Monat. Mein Rad rührte ich in dieser Zeit nicht an. Es stand unausgepackt in der Garage und verstaubte vor sich hin.

Ich lungerte herum, spielte jeden Tag Golf, fuhr Wasserski, trank Bier, lag auf dem Sofa und zappte durch die Fernsehprogramme.

Ich fuhr zu Chuey´s, aß Tex-Mex und hielt mich überhaupt nicht mehr an die Vorschriften meiner Trainingsdiät. Immer wenn ich aus Europa zurückkam, ging ich vom Flughafen aus schnurstracks zu Chuey´s, egal, wie müde ich war, und bestellte mir ein Burrito mit Tomatillosoße und ein paar Margaritas oder Shiner Bocks. Jetzt nahm ich praktisch jede Mahlzeit dort ein. Ich wollte nie mehr auf etwas verzichten müssen. Ich hatte ein zweites Leben geschenkt bekommen, und ich war entschlossen, es zu genießen.

Aber Spaß machte mir das alles nicht. Ich war weder fröhlich, noch frei und glücklich. Es hatte etwas Gezwungenes. Ich versuchte krampfhaft, mich so zu fühlen wie damals mit Kik bei unserem Urlaub in Europa. Aber diesmal war alles anders, und ich wußte nicht, warum. Die Wahrheit war, daß ich mich schämte. Ich war bis obenhin voller Selbstzweifel, und mein Verhalten beim »Paris – Nizza«-Rennen war mir peinlich. “»Junge, man gibt niemals auf.« Aber ich hatte aufgegeben.

Mein Verhalten paßte überhaupt nicht mehr zu meinem Charakter, und das nur, weil ich überlebt hatte. Es war ein klassischer Fall von »Was nun?« Ich hatte einen Job gehabt und ein individuelles Leben, und dann wurde ich krank, und das hat mein Leben völlig umgekrempelt. Als ich versuchte, in mein altes Leben zurückzukehren, verlor ich völlig die Orientierung, nichts war mehr so wie früher – und damit konnte ich einfach nicht umgehen.

Ich haßte das Rad, aber ich dachte: »Was soll ich sonst machen? Soll ich vielleicht Laufbursche in irgendeinem Büro werden?« Ich kam mir ganz und gar nicht wie ein Champion vor. Ich wußte nichts mit mir anzufangen. Ich wollte einfach abhauen, und das tat ich auch. Ich drückte mich vor jeder Verantwortung.

Den Krebs zu überleben bedeutete mehr, als daß nur mein Körper wieder gesund wurde. Auch mein Verstand und meine Seele mußten heilen. Heute weiß ich das.

Damals konnte niemand das so richtig verstehen – außer Kik. Sie blieb gelassen. Dabei hätte sie mit Recht wütend auf mich sein können, denn ich hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich ging jeden Tag zum Golfspielen, und sie hatte kein eigenes Zuhause, keinen Hund und keinen Job mehr. Sie las die Stellenanzeigen und überlegte, wie sie unsere Finanzen aufbessern könnte. Meine Mutter wußte, was sie durchmachte. Wenn sie uns anrief, wollte sie immer auch mit Kik sprechen. Sie fragte sie: »Und wie geht es dir?«

Nachdem das mit dem Golfspielen, dem Biertrinken und dem mexikanischen Essen einige Wochen gedauert hatte, hatte Kik die Nase voll. Jemand mußte versuchen, zu mir durchzudringen. An einem Morgen saßen wir auf der Terrasse und tranken Kaffee. Ich stellte meine Tasse auf den Tisch und sagte: »Also, ich muß jetzt los zum Golf.«

»Lance«, sagte Kik, »und was soll ich heute machen?«

»Was meinst du?«

»Du hast mich nicht gefragt, was ich heute mache. Du hast nicht gefragt, worauf ich Lust habe oder ob es mir etwas ausmacht, daß du Golfspielen gehst. Du teilst mir einfach mit, was du vorhast. Interessiert es dich, was ich mache?«

»Tut mir leid.«

»Also, was soll ich heute tun? Was soll ich tun, sag mir das.«

Ich schwieg. Ich wußte keine Antwort.

»Du mußt endlich eine Entscheidung treffen. Du mußt dich entscheiden, ob du dich richtig zur Ruhe setzen und ein golfspielender, biertrinkender, mexikanisches Essen mampfender Schlappi werden willst. Wenn du das willst, okay. Ich liebe dich und werde dich sowieso heiraten. Aber ich muß wissen, woran ich bin, damit ich planen und mir einen Job suchen und dein Golfspielen finanzieren kann. Sag mir endlich, woran ich bin.

Aber wenn du dich nicht zur Ruhe setzen willst, dann mußt du mit dem Essen und Trinken aufhören und darfst nicht so herumhängen. Das mußt du dir wirklich klarmachen. Du drückst dich vor jeder Entscheidung, und das paßt nicht zu dir. Das bist nicht du. Und überhaupt weiß ich nicht, wer du im Moment eigentlich bist. Ich liebe dich trotzdem, aber du mußt dir endlich darüber klarwerden, was du willst.«

Sie sagte das nicht unfreundlich. Und sie hatte natürlich recht. Ich wußte wirklich nicht, was ich wollte, ich hing nur so rum. Plötzlich sah ich mich durch ihre Augen, als einen Ruheständler, und was ich sah, gefiel mir überhaupt nicht. Sie wollte kein untätiges Leben führen, und das konnte ich ihr nicht verdenken.

Ruhig fuhr sie fort: »Also sag mir, ob wir in Austin bleiben. Dann suche ich mir eine Arbeit. Ich will nicht weiter zu Hause hocken und mich langweilen, während du Golf spielst.«

So durfte normalerweise niemand mit mir sprechen. Aber sie sagte es fast liebevoll, überhaupt nicht aggressiv. Kik wußte, wie dickköpfig ich sein konnte, wenn jemand mir den Kopf waschen wollte. Das war meine alte Abwehrreaktion auf Kontrolle und Autorität. Wenn ich mich in die Enge getrieben fühle, wehre ich mich entweder körperlich, mit Worten oder emotional. Bei Kiks Worten fühlte ich mich jedoch nicht angegriffen oder verletzt, und ich hatte auch nicht das Gefühl, daß auf mir herumgehackt würde. Ich wußte, daß sie die reine Wahrheit sagte. Es klingt vielleicht komisch, aber dieses etwas einseitige Gespräch hatte mich sehr tief berührt. Ich stand auf und sagte: »Okay. Ich denk´ darüber nach.«

Ich ging trotzdem zum Golfspielen, ich wußte, daß Kik nichts dagegen hatte. Golf war nicht das Problem. Das Problem war, wie ich mich selbst wiederfinden konnte.

Kristin, Stapleton, Carmichael und Och hatten sich gegen mich verschworen. Hinter meinem Rücken redeten sie dauernd darüber, wie sie mich wieder aufs Rad bringen könnten. Ich verkündete zwar immer noch, daß ich aufhören wolle, aber mit der Zeit fing ich an zu schwanken. Bill überredete mich zu einem letzten Rennen, den »U.S. Pro Championships«, das im Mai in Philadelphia stattfinden sollte.

Chris Carmichael kam nach Austin. Er warf einen Blick in die Garage, sah das immer noch eingepackte Rad und schüttelte den Kopf. Auch Chris meinte, ich müßte mich bewußt für oder gegen das Rad entscheiden. »Du hast überlebt, und jetzt mußt du wieder ins Leben zurück«, sagte er immer wieder. Aber er merkte auch, daß ich für ein regelrechtes Comeback noch nicht bereit war. Seinen Besuch in Austin erklärte er damit, daß er mir für die »U.S. Championships« einen Trainingsplan zusammenstellen wollte. Außerdem stand der zweite »Ride for the Roses« vor der Tür. Das Rennen war ein sogenanntes Kriterium durch die Innenstadt, ein Rundstreckenrennen mit Punktewertung. Dafür brauchte ich wenigstens ein Minimum an Kondition. »So kann das nicht weitergehen«, sagte Chris und zeigte auf meinen Körper. »Mit so einer Figur kannst du dich da nicht sehen lassen. Das wäre zu peinlich für deine Krebsstiftung.«

Chris bestand auf einem acht- bis zehntägigen Intensivtraining, damit ich wieder in Form kam, unabhängig von irgendwelchen Rückzugsplänen. Aber nicht in Austin. »Irgendwo außerhalb«, meinte er. »Hier kannst du dich nicht konzentrieren – zuviel Golf und andere Sachen.«

Wir überlegten, wohin wir gehen könnten. Arizona? Zu heiß. Colorado? Zu hoch. Dann fiel mir etwas ein: »Was ist mit Boone? Diese kleine Hippiegemeinde in North Carolina?«

Boone lag hoch oben in den Appalachies, auf der alten Strecke der »Tour DuPont«. Ich hatte schöne Erinnerungen an diesen Ort. Zweimal hatte ich dort die »Tour DuPont« gewonnen und viele Nachmittage damit verbracht, mich über den höchsten Gipfel zu quälen, den Beech Mountain, der entscheidenden Bergetappe des Rennens. Die Gegend war knochenhart, aber wunderschön, und in dem Collegestädtchen Boone wimmelte es von Studenten und Professoren der nahe gelegenen Appalachian State University. Praktischerweise gab es an der Uni auch ein Trainingszentrum und in den umliegenden Wäldern konnte man jede Menge Hütten mieten.

Per Internet mietete ich ein paar einsam gelegene Hütten. Dann fragte ich meinen alten Freund Bob Roll, ob er mein Trainingspartner sein wollte. Bob war 38 und ein hochmotivierter, ehemaliger Straßenfahrer, der zum Mountainbiking gewechselt hatte. Ich freute mich darauf, die zehn Tage mit ihm zu trai“nieren.

Wir flogen nach Charlotte in North Carolina und fuhren dann zuerst zur Universität. Mit dem Trainingszentrum am Sportinstitut hatte Chris ein paar Tests auf einem stationären Fahrrad vereinbart, um festzustellen, wie fit ich war. Er sah sich meinen VO2-Wert und den Grenzwert der Milchsäurekonzentration an und fand bestätigt, was er schon wußte: Ich war fett und in einer lausigen Verfassung. Normalerweise waren meine physiologischen Werte oberste Spitze. Mein VO2-Wert, der normalerweise bei 85 lag, war jetzt bei 64.

Zu den Trainern von der Uni sagte Chris: »Paßt auf. Wenn wir zurückkommen ist er auf 74, der schafft das in einer Woche.«

Chris wußte, daß mein Körper schon nach kürzester Zeit auf neue Belastungsspitzen reagierte, und ging davon aus, daß ich in wenigen Tagen wieder in Topform sein konnte. Aber um mich herauszufordern, wettete er mit mir, daß ich meine Wattleistung – die Tretleistung – in einer Woche nicht steigern könnte. »Ich wette einen Hunderter, daß du nicht über 500 kommst«, sagte er. Ich schlug ein.

Von da an gab es nur noch Essen, Schlafen und Fahren. In den höheren Bergregionen hatte gerade der Frühling begonnen und hüllte die Kiefernwälder in Nebel und Nieselregen. Tagtäglich fuhren wir im Regen. Die Kälte stach mir in die Lungen, und bei jedem Atemzug blies ich weiße Eiswolken aus. Aber diesmal machte mir das nichts aus, ich fühlte mich davon wie gereinigt. Wir fuhren auf gewundenen, kleinen Straßen, von denen kaum eine asphaltiert und in der Karte eingezeichnet war. Wir fuhren über Geröll, Karst und Kiefernnadeln und unter tiefhängenden Zweigen hindurch.

Abends servierte Chris riesige Schüsseln mit Spaghetti oder Folienkartoffeln, und dann setzten wir uns um den Tisch, schlangen das Essen hinunter und unterhielten uns über Dinge, die besser nicht abgedruckt werden. Wir erzählten uns Geschichten, lachten über die alten Zeiten, erinnerten uns an den Beginn unserer Freundschaft und mein erstes Jahr als Profi“sportler.

Jeden Abend rief ich zu Hause an, und mit jedem Tag merkte Kristin, daß ich langsam wieder ich selbst wurde. Ich war fröhlich, machte Witze und klang nicht mehr so depressiv. Und wenn ich ihr von der Kälte und dem Regen erzählte oder wie weit wir gefahren waren, lachte ich und sagte, fast erstaunt: »Ich fühl mich richtig gut.«

Ich konnte die Eintönigkeit des Trainings wieder genießen, tagsüber hart zu fahren und sich abends gemütlich in der Hütte zu verkriechen. Selbst das schreckliche Wetter gefiel mir. Es war, als wäre ich wieder beim »Paris – Nizza« und starrte den Elementen, die mich besiegt hatten, direkt ins Auge. In Paris hatte mich das kalte, nasse Wetter geschafft, doch nun konnte ich befriedigt feststellen, das es mir wie in alten Zeiten nichts mehr ausmachte.

Zum Abschluß des Trainings wollten wir den Beech Mountain nehmen. Chris wußte genau, warum er mir das vorschlug: Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der das »mein« Berg gewesen war. Die mörderische Steigung bis zum schneebedeckten Gipfel war 1500 Meter lang, und bei meinen zwei »Tour DuPont«-Siegen war das die entscheidende Etappe gewesen. Ich erinnerte mich noch daran, wie ich mich den Berg hinaufgearbeitet hatte, angefeuert von Massen von Zuschauern, die meinen Namen auf die Straße geschrieben hatten: »Go Armstrong!«

Wir starteten an einem kalten, regnerischen Nebeltag und wollten erst eine Schleife von 160 Kilometern fahren, bevor wir uns zum Schluß an den Aufstieg machten. Chris sollte im Auto folgen, damit wir oben die Räder aufladen und zum Abendessen zur Hütte zurückfahren konnten.

Wir fuhren und fuhren, es regnete unaufhörlich, vier Stunden, dann fünf. Als wir am Fuß des Beech Mountain ankamen, war ich seit sechs Stunden im Sattel und durch und durch naß. Aber ich stellte mich in die Pedale, kurbelte die Maschine bergauf und hängte Bob Roll ab.

Beim Angriff auf den Berg machte ich eine unheimliche Entdeckung: Auf der Straße stand noch immer mein Name.

Die Reifen rollten über die verwaschenen, gelben und weißen Buchstaben. Ich starrte zwischen meinen Füßen nach unten. Dort stand noch, etwas verblaßt: »Viva Lance.«

Immer weiter bergauf ging es, der Weg wurde steiler. Ich hämmerte in die Pedale, arbeitete hart und spürte einen Anflug von Schweiß und Befriedigung. Unter meiner Haut machte sich eine Wärme breit wie nach einem Schluck Alkohol. Mein Körper reagierte instinktiv auf die Steigung. Ohne zu überlegen, stellte ich mich im Sattel auf und nahm den Gipfel. Plötzlich fuhr Chris dicht hinter mir auf, kurbelte das Fenster runter und feuerte mich an: »Go, go, go!« schrie er. Ich schaute hinter mich. »Allez Lance, allez, allez!« schrie er. Ich stürzte mich in die Pedale und hörte, wie mein Atem kürzer wurde, und ich beschleunigte.

Das Klettern löste etwas in mir aus. Während ich mich den Berg hinaufschraubte, dachte ich über mein Leben nach. Ich dachte zurück an alle wichtigen Punkte, von meiner Kindheit an, über die ersten Rennen, bis hin zu meiner Krankheit und wie sie mich verändert hatte. Vielleicht lag es an dem sturen Kraftakt des Kletterns, daß ich mich endlich den Fragen stellte, um die ich mich seit Wochen herumdrückte. Ich merkte, daß die Zeit der Ausflüchte vorbei war. »Beweg dich«, sagte ich zu mir, »beweg dich, denn solange du dich noch bewegen kannst, bist du nicht krank.«

Ich schaute wieder auf den Boden, der unter meinen Füßen wegraste, auf das Wasser, das von den Reifen spritzte, und auf die wirbelnden Speichen. Und ich sah noch mehr blasse Buchstaben auf der Straße, ich sah meinen verwaschenen Namen: »Go, Lance, go.«

Auf meinem Weg nach oben sah ich mein Leben als Ganzes vor mir. Ich sah die Muster, seine Vorzüge und auch seinen Sinn. Und der bestand schlicht darin, daß mir ein langer, mühsamer Aufstieg bestimmt war.

Ich war fast auf dem Gipfel angekommen. Hinter mir konnte Chris an meiner Körperhaltung auf dem Fahrrad sehen, daß sich in mir ein innerer Wandel vollzog. Er spürte, daß eine Last von mir abgefallen war.

Spielend erreichte ich den Gipfel und ließ das Rad auslaufen. Chris parkte das Auto und stieg aus. Wir sprachen nicht darüber, was gerade geschehen war. Chris sah mich nur an und sagte: »Ich lade jetzt dein Rad auf den Wagen.«

»Nein«, sagte ich, »gib mir die Regenjacke. Ich fahr zurück.«

Ich war wiederhergestellt. Ich war wieder ein Radrennfahrer. Chris lächelte und stieg ins Auto.

Den Rückweg verbrachte ich in einem Zustand fast ehrfürchtigen Staunens über diese schönen, friedlichen, seelenvollen Berge. Die Fahrt war anstrengend, aber ruhig. Beim Fahren empfand ich die reinste Liebe für das Rad, und Boone erschien mir wie das Heilige Land, wie ein Wallfahrtsort. Sollte ich je wieder irgendwelche ernsthaften Probleme haben, weiß ich, daß ich nach Boone gehen und dort eine Antwort finden werde. Auf dieser Strecke habe ich mein Leben zurückbekommen.

Einen Tag oder zwei danach waren wir wieder im Trainingszentrum der Universität und testeten meine Wattleistung. Ich trat so wild in die Pedale, daß der Odometer, der Zähler, verrückt spielte. Ich trieb die Maschine so schnell an, daß Chris keinen Digitalwert ermitteln konnte. Lachend drückte er mir 100 Dollar in die Hand.

Abends beim Essen sagte ich beiläufig zu Chris: »Ich überlege, ob ich bei diesem Rennen in Atlanta mitmachen kann.«

»Klar, machen wir«, antwortete Chris.

An diesem Abend planten wir mein Comeback. Chris telefonierte wie wi

© für die deutschsprachige Ausgabe 2000 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach - All rights reserved. | geschrieben am 18.07.2007 | 10577 Wörter | 54690 Zeichen