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Traumschlange


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Informationen zum Buch
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  Extras

Rezension von

Andreas Jur

Traumschlange Lebendig begraben zu werden, gehört sicherlich zu den unerfreulichsten Vorstellungen, die unsere Albträume heimsuchen können. Anschließend ein Dasein als tumber Zombie und Arbeitssklave ohne Selbstbewusstsein fristen zu müssen, wäre dabei wohl keine angenehme Fortsetzung dieses düsteren Gedankenspiels. Was uns eher aus abstrusen Horrorfilmen als geschmacklose Splatter-Einlage bekannt ist, gehört in der Kultur Haitis ebenso zum Alltag wie die ständige Präsenz wechselnder und natürlich stets wohlwollender Besatzungsmächte. Behörden und andere Katastrophen Es ist wahrlich keine gute Woche für die englische Innenarchitektin Abby Summers. Das Geschäft läuft eher flau derzeit, die Kasse ist leer, ihr Gipsfuß macht die Arbeit auch nicht leichter und ein soeben vollendeter Auftrag bringt nur kurzzeitigen Grund zur Freude. Noch am gleichen Abend findet sie nämlich in der Post eine behördliche Nachricht aus Haiti: Ihre Schwester Linda sei an einer Fiebererkrankung verstorben. Abby quittiert die Mitteilung mit einem heftigen Asthma-Anfall und anschließender Apathie. Als sie wieder klaren Kopfes ist, möchte sie sich um die Rückführung des Leichnams kümmern, auch wenn die Finanzlage derlei Kostspieligkeiten nicht wirklich erlaubt. Linda muss allerdings erfahren, dass dieser nicht nur unter speziellen Vorkehrungen transportiert werden müsste, sondern dass sie vor allem persönlich bei den haitianischen Behörden vorstellig werden und die Überführung vor Ort beantragen muss. Na bestens – also heißt es die Reservekasse plündern und auf in die Karibik nach Haiti. Dass die Behörden dort auch nicht gerade unkompliziert sind, kann kaum überraschen, aber dass Linda nach allerlei Hin und Her erfahren muss, dass der Leichnam ihrer Schwester unauffindbar ist und die Krankenhausakten ebenfalls verschwunden sind, lässt sie zunächst wie vom Donner gerührt und ratlos in der Fremde stehen. Unter Zombies Abby macht die Bekanntschaft des charismatischen Haitianers Patrick Ferre, der sie nicht nur zum Essen einlädt und für eine Weile die trübe Wirklichkeit vergessen macht, sondern der orientierungslosen Ausländerin auch noch bei den Behörden helfend zur Hand geht. Ob er dabei nicht nur selbstlos handelt, sondern Abby zumindest ein wenig umgarnen will? Vermutlich. Auf jeden Fall aber zeigt er sich recht geheimnisvoll und exotisch, was eine unbestreitbare Faszination auf Abby ausübt. Dem Arzt Jean Mitchard lässt Abbys Nachfrage betreffs Linda keine Ruhe, denn in seinem Krankenhaus pflegen die Toten ebenso wenig zu verschwinden wie die lebenden Patienten. Gemeinsam versuchen sie, dem Problem auf die Spur zu kommen, erhalten aber von den offenkundig korrupten Behörden keine Unterstützung und werden lapidar abgefertigt. Eine der Möglichkeiten, die sie gedanklich durchspielen, lässt sie auf die phantastisch anmutende Schreckidee verfallen, dass es eine Verbindung gibt zwischen Lindas Fiebertod, ihrem Verschwinden, den Zuckerrohrplantagen und dem allzu lebendigen Mythos von den wandelnden Toten ... Ferre scheint ebenfalls weiterhin behilflich sein zu wollen und macht Abby ganz nebenbei mit allerlei kulturellen Eigenheiten des Inselstaates vertraut – und nicht jede dieser Attraktionen lässt sich in einem Touristikführer nachlesen ... Thrillerqualitäten Der Leser ahnt natürlich sofort, was mit Abbys Schwester Linda geschehen ist, immerhin soll es laut Klappentext um Voodoo gehen. Diese frühe Erkenntnis ist auch so beabsichtigt (immerhin handelt es sich um einen Thriller und keinen Krimi zum Mitraten), den direkten Hinweis gibt Wekwerth bereits im stimmungsvollen Prolog seines neuen Thrillers "Traumschlange". Neu?, fragt sich der Leser dieser Zeilen vielleicht an dieser Stelle. Rainer Wekwerth hat doch zuvor noch nichts anderes veröffentlicht, oder? Doch, hat er, allerdings bislang unter dem Pseudonym David Kenlock ("Dunkles Feuer"); seine Jugendbücher erschienen unter dem Namen Jonathan Abendrot ("Emilys wundersame Reise ins Land der Träume"). Was bekommen wir also an Kulissen und Handlungszutaten für diesen Thriller mit leichtem Mystery-Einschlag präsentiert? Die Ausgangssituation erscheint vertraut: Die Protagonistin, ohnehin in keiner glücklichen Lebenslage, wird aus ihrem ganz gewöhnlichen Alltag gerissen und muss einem verzwickten persönlichen Problem auf die Spur kommen, gerät dabei in Machenschaften jenseits der ihr vertrauten Normalität und muss sich letztlich an Leib und Leben bedroht sehen. Bis dahin nichts Neues, aber Wekwerth hat den üblichen Thrillercocktail mit einigen interessanten Ingredenzien versehen und verfeinert. What you do must be voodoo Die reizvollste Zutat ist zunächst sicherlich der Voodoo-Hintergrund. Wekwerth hat sich sichtlich über die kulturellen Eigenheiten seines Schauplatzes informiert, die eingestreuten Voodoo-Elemente sind stimmungsvoll und authentisch in Szene gesetzt und mit dem passenden Vokabular versehen. Hinzu kommt eine medizinische Hypthese für das Zombiephänomen, wobei der Autor sich auf eine bekannte Untersuchung von BBC-Reportern berufen kann, die bereits etwas älteren Datums ist. Diese Ergebnisse wurden inzwischen zwar bereits mit einer Gegenuntersuchung widerlegt, aber tatsächlich sind die Gegenargumente der Skeptiker so dünn wie das Indizmaterial der Befürworter. Diese Grauzone kann Wekwerth also nutzbringend beackern, ohne sich ins Phantastische zu begeben, aber durch die Möglichkeit realen Zombietums noch besser einen wohligen Schauer erzeugen, als dies bei einem reinen Horroreffekt der Fall wäre. Haiti ist kein Urlaubsparadies Wenn wir an Haiti denken, haben wir im Normalfall bunte, helle Fernsehfilmkulissen vor Augen, die bei näherer Betrachtung die Wirklichkeit verspotten. Nein, Haiti ist kein Urlauberparadies voll lächelnder und braun gebrannter Hulamädchen. Haiti gehört zu den ärmsten Ländern unserer Hemisphäre. Die Ureinwohner wurden von den frühen Kolonialmächten praktisch ausgerottet, die Insel wurde anschließend mit afrikanischen Sklaven neu besiedelt, zwischen Spanien und Frankreich aufgeteilt, und erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewann Haiti seine Freiheit und wurde die erste von europäischen Mächten unabhängige Republik. Handelsembargos, schlechte Agrarpolitik und Reparationszahlungen (!) an Frankreich ließen das Land verarmen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es für zwanzig Jahre von den USA besetzt, von 1957 bis 1986 hatte das Land unter Diktatoren zu leiden, dann folgte nach einem Putsch eine Militärregierung. Dann kam Aristide, dann wieder ein Militärputsch, dann wieder Aristide, dann sein Weggefährte Préval, dann wieder Aristide und seit den Aufständen von 2004 befindet sich das Land unter der Herrschaft einer Übergangsregierung – die USA lassen erneut grüßen. Not und Gewalt allerorten. (Mehr zur aktuellen Rolle der USA gibt es u. a. von Noam Chomsky an dieser Stelle nachzulesen: http://www.chomsky.info/articles/20040309.htm.) Warum dieser ausführliche Ausflug in die Geschichte? Nun, Wekwerth war es ebenfalls wichtig, seinen Handlungsschauplatz nicht in luftleerem Raum oder einer verkitschten Hollywoodvariante existieren zu lassen. So gut er sich über Voodoo und Zombies informiert hat und dabei auf dem Teppich der Realitäten blieb, so gründlich hat er das wirkliche Haiti in seine Erzählung eingeflochten, bis hin zu den korrekten Straßennamen, Distanzen oder Fahrstrecken. Dies macht einen großen Anteil an der Atmosphäre aus und in der Tat funktioniert der Plott des Autors nur in ebendiesem realen Haiti in einem Umfeld von Ausbeutung, Armut, Aberglauben, Voodokult und kulturellen Eigenheiten. Und die erdrückenden Armutszustände sind als Kontrast zu früherer Pracht der Insel ebenso gegenwärtig wie beständige Bedrohungen durch Guerillas, Privatarmeen, Besatzungskräfte oder Straßenbanden. Wer "Traumschlange" liest, kommt nicht umhin, ein besonderes Augenmerk auf all diese Begleitumstände zu richten und sie in den Erzähl- und Handlungsfluss aufzunehmen, denn zum Glück bezieht der Roman seine besonderen Momente und seine Wirkung nicht allein aus aktionsbetonter Dramatik. Spannungsbogen Man muss nun nicht befürchten, lange Belehrungen über Geschichte und Kultur dargeboten zu bekommen. Diese Informationen werden aktiv in das Geschehen eingefügt und es bleibt genug Handlungsreichtum, um die Erzählung in Bewegung zu halten. Bedrohungen, unerwartete Wendungen, verzwickte Situationen nehmen, wie es sich gehört, zudem im letzten Drittel stark zu, so dass wir in einem aktionsreichen Finale – und einem augenzwinkernden Epilog, der den Kreis zum stimmungsvollen Prolog schließt – aus dem Geschehen entlassen werden. Nur an einer Stelle unterläuft dem Autor ein geringfügiger Fehler in der Choreographie seines Erzählflusses, als er auf einer Autofahrt Abby und den Doc ihre jeweiligen Lebensgeschichten breitwalzen lässt. Das mag zwar durchaus realitätsnah erscheinen – so eine stundenlange Fahrt über Land kann recht ermüdend werden ohne Gespräch –, ist aber zu monologlastig ausgefallen. Zum Glück taucht dies in der Mitte des Buches auf, als es ohnehin zu einer Verschnaufpause kommt bzw. kurz bevor sich der deutlich aktionsreichere Teil der Erzählung anbahnt. Offenbar hatte der Autor noch eine Menge an Informationen über seine Charaktere unterzubringen und der Platz dafür wurde knapp. Die wirklich gelungene Ausformung der Handlungsträger mag dies durchaus rechtfertigen, sicherlich hätten diverse Details jedoch gewinn- und spannungsträchtiger untergebracht werden können. Wekwerth hält seinen Thriller ansonsten straff im Aufbau, genau bemessen in der Länge und weiß mit stimmungsvollen Bildern zu bestechen – fast kann man den Lärm und Schmutz sinnlich ebenso wahrnehmen wie das nächtliche Haiti, das eine ganz andere, ausgesprochen intensiv-exotische Seite zu offenbaren weiß. "Traumschlange" lässt sich ebenso intensiv in einem Rutsch und ohne Hänger genießen, und überdies nimmt man noch einiges Nachdenken über Haiti und das, wozu Menschen fähig sein können, aus der spannungsreichen Lektüre mit – Was will man mehr erwarten? Und vor internationaler Thrillerkonkurrenz muss sich dieses rundum gelungene Werk keineswegs verstecken. Da kann Rainer Wekwerth sein voriges englisches Pseudonym gern zu den Akten legen und stattdessen den Beweis antreten, dass die deutsche Autorenschaft durchaus noch gelungene und sorgfältig orchestrierte Spannungsliteratur hervorbringen kann.

Lebendig begraben zu werden, gehört sicherlich zu den unerfreulichsten Vorstellungen, die unsere Albträume heimsuchen können. Anschließend ein Dasein als tumber Zombie und Arbeitssklave ohne Selbstbewusstsein fristen zu müssen, wäre dabei wohl keine angenehme Fortsetzung dieses düsteren Gedankenspiels. Was uns eher aus abstrusen Horrorfilmen als geschmacklose Splatter-Einlage bekannt ist, gehört in der Kultur Haitis ebenso zum Alltag wie die ständige Präsenz wechselnder und natürlich stets wohlwollender Besatzungsmächte.

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25.09.2004

Behörden und andere Katastrophen

Es ist wahrlich keine gute Woche für die englische Innenarchitektin Abby Summers. Das Geschäft läuft eher flau derzeit, die Kasse ist leer, ihr Gipsfuß macht die Arbeit auch nicht leichter und ein soeben vollendeter Auftrag bringt nur kurzzeitigen Grund zur Freude. Noch am gleichen Abend findet sie nämlich in der Post eine behördliche Nachricht aus Haiti: Ihre Schwester Linda sei an einer Fiebererkrankung verstorben. Abby quittiert die Mitteilung mit einem heftigen Asthma-Anfall und anschließender Apathie.

Als sie wieder klaren Kopfes ist, möchte sie sich um die Rückführung des Leichnams kümmern, auch wenn die Finanzlage derlei Kostspieligkeiten nicht wirklich erlaubt. Linda muss allerdings erfahren, dass dieser nicht nur unter speziellen Vorkehrungen transportiert werden müsste, sondern dass sie vor allem persönlich bei den haitianischen Behörden vorstellig werden und die Überführung vor Ort beantragen muss. Na bestens – also heißt es die Reservekasse plündern und auf in die Karibik nach Haiti.

Dass die Behörden dort auch nicht gerade unkompliziert sind, kann kaum überraschen, aber dass Linda nach allerlei Hin und Her erfahren muss, dass der Leichnam ihrer Schwester unauffindbar ist und die Krankenhausakten ebenfalls verschwunden sind, lässt sie zunächst wie vom Donner gerührt und ratlos in der Fremde stehen.

Unter Zombies

Abby macht die Bekanntschaft des charismatischen Haitianers Patrick Ferre, der sie nicht nur zum Essen einlädt und für eine Weile die trübe Wirklichkeit vergessen macht, sondern der orientierungslosen Ausländerin auch noch bei den Behörden helfend zur Hand geht. Ob er dabei nicht nur selbstlos handelt, sondern Abby zumindest ein wenig umgarnen will? Vermutlich. Auf jeden Fall aber zeigt er sich recht geheimnisvoll und exotisch, was eine unbestreitbare Faszination auf Abby ausübt.

Dem Arzt Jean Mitchard lässt Abbys Nachfrage betreffs Linda keine Ruhe, denn in seinem Krankenhaus pflegen die Toten ebenso wenig zu verschwinden wie die lebenden Patienten. Gemeinsam versuchen sie, dem Problem auf die Spur zu kommen, erhalten aber von den offenkundig korrupten Behörden keine Unterstützung und werden lapidar abgefertigt. Eine der Möglichkeiten, die sie gedanklich durchspielen, lässt sie auf die phantastisch anmutende Schreckidee verfallen, dass es eine Verbindung gibt zwischen Lindas Fiebertod, ihrem Verschwinden, den Zuckerrohrplantagen und dem allzu lebendigen Mythos von den wandelnden Toten ...

Ferre scheint ebenfalls weiterhin behilflich sein zu wollen und macht Abby ganz nebenbei mit allerlei kulturellen Eigenheiten des Inselstaates vertraut – und nicht jede dieser Attraktionen lässt sich in einem Touristikführer nachlesen ...

Thrillerqualitäten

Der Leser ahnt natürlich sofort, was mit Abbys Schwester Linda geschehen ist, immerhin soll es laut Klappentext um Voodoo gehen. Diese frühe Erkenntnis ist auch so beabsichtigt (immerhin handelt es sich um einen Thriller und keinen Krimi zum Mitraten), den direkten Hinweis gibt Wekwerth bereits im stimmungsvollen Prolog seines neuen Thrillers "Traumschlange". Neu?, fragt sich der Leser dieser Zeilen vielleicht an dieser Stelle. Rainer Wekwerth hat doch zuvor noch nichts anderes veröffentlicht, oder? Doch, hat er, allerdings bislang unter dem Pseudonym David Kenlock ("Dunkles Feuer"); seine Jugendbücher erschienen unter dem Namen Jonathan Abendrot ("Emilys wundersame Reise ins Land der Träume").

Was bekommen wir also an Kulissen und Handlungszutaten für diesen Thriller mit leichtem Mystery-Einschlag präsentiert? Die Ausgangssituation erscheint vertraut: Die Protagonistin, ohnehin in keiner glücklichen Lebenslage, wird aus ihrem ganz gewöhnlichen Alltag gerissen und muss einem verzwickten persönlichen Problem auf die Spur kommen, gerät dabei in Machenschaften jenseits der ihr vertrauten Normalität und muss sich letztlich an Leib und Leben bedroht sehen. Bis dahin nichts Neues, aber Wekwerth hat den üblichen Thrillercocktail mit einigen interessanten Ingredenzien versehen und verfeinert.

What you do must be voodoo

Die reizvollste Zutat ist zunächst sicherlich der Voodoo-Hintergrund. Wekwerth hat sich sichtlich über die kulturellen Eigenheiten seines Schauplatzes informiert, die eingestreuten Voodoo-Elemente sind stimmungsvoll und authentisch in Szene gesetzt und mit dem passenden Vokabular versehen. Hinzu kommt eine medizinische Hypthese für das Zombiephänomen, wobei der Autor sich auf eine bekannte Untersuchung von BBC-Reportern berufen kann, die bereits etwas älteren Datums ist. Diese Ergebnisse wurden inzwischen zwar bereits mit einer Gegenuntersuchung widerlegt, aber tatsächlich sind die Gegenargumente der Skeptiker so dünn wie das Indizmaterial der Befürworter. Diese Grauzone kann Wekwerth also nutzbringend beackern, ohne sich ins Phantastische zu begeben, aber durch die Möglichkeit realen Zombietums noch besser einen wohligen Schauer erzeugen, als dies bei einem reinen Horroreffekt der Fall wäre.

Haiti ist kein Urlaubsparadies

Wenn wir an Haiti denken, haben wir im Normalfall bunte, helle Fernsehfilmkulissen vor Augen, die bei näherer Betrachtung die Wirklichkeit verspotten. Nein, Haiti ist kein Urlauberparadies voll lächelnder und braun gebrannter Hulamädchen. Haiti gehört zu den ärmsten Ländern unserer Hemisphäre. Die Ureinwohner wurden von den frühen Kolonialmächten praktisch ausgerottet, die Insel wurde anschließend mit afrikanischen Sklaven neu besiedelt, zwischen Spanien und Frankreich aufgeteilt, und erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewann Haiti seine Freiheit und wurde die erste von europäischen Mächten unabhängige Republik. Handelsembargos, schlechte Agrarpolitik und Reparationszahlungen (!) an Frankreich ließen das Land verarmen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es für zwanzig Jahre von den USA besetzt, von 1957 bis 1986 hatte das Land unter Diktatoren zu leiden, dann folgte nach einem Putsch eine Militärregierung. Dann kam Aristide, dann wieder ein Militärputsch, dann wieder Aristide, dann sein Weggefährte Préval, dann wieder Aristide und seit den Aufständen von 2004 befindet sich das Land unter der Herrschaft einer Übergangsregierung – die USA lassen erneut grüßen. Not und Gewalt allerorten. (Mehr zur aktuellen Rolle der USA gibt es u. a. von Noam Chomsky an dieser Stelle nachzulesen: http://www.chomsky.info/articles/20040309.htm.)

Warum dieser ausführliche Ausflug in die Geschichte? Nun, Wekwerth war es ebenfalls wichtig, seinen Handlungsschauplatz nicht in luftleerem Raum oder einer verkitschten Hollywoodvariante existieren zu lassen. So gut er sich über Voodoo und Zombies informiert hat und dabei auf dem Teppich der Realitäten blieb, so gründlich hat er das wirkliche Haiti in seine Erzählung eingeflochten, bis hin zu den korrekten Straßennamen, Distanzen oder Fahrstrecken. Dies macht einen großen Anteil an der Atmosphäre aus und in der Tat funktioniert der Plott des Autors nur in ebendiesem realen Haiti in einem Umfeld von Ausbeutung, Armut, Aberglauben, Voodokult und kulturellen Eigenheiten. Und die erdrückenden Armutszustände sind als Kontrast zu früherer Pracht der Insel ebenso gegenwärtig wie beständige Bedrohungen durch Guerillas, Privatarmeen, Besatzungskräfte oder Straßenbanden. Wer "Traumschlange" liest, kommt nicht umhin, ein besonderes Augenmerk auf all diese Begleitumstände zu richten und sie in den Erzähl- und Handlungsfluss aufzunehmen, denn zum Glück bezieht der Roman seine besonderen Momente und seine Wirkung nicht allein aus aktionsbetonter Dramatik.

Spannungsbogen

Man muss nun nicht befürchten, lange Belehrungen über Geschichte und Kultur dargeboten zu bekommen. Diese Informationen werden aktiv in das Geschehen eingefügt und es bleibt genug Handlungsreichtum, um die Erzählung in Bewegung zu halten. Bedrohungen, unerwartete Wendungen, verzwickte Situationen nehmen, wie es sich gehört, zudem im letzten Drittel stark zu, so dass wir in einem aktionsreichen Finale – und einem augenzwinkernden Epilog, der den Kreis zum stimmungsvollen Prolog schließt – aus dem Geschehen entlassen werden. Nur an einer Stelle unterläuft dem Autor ein geringfügiger Fehler in der Choreographie seines Erzählflusses, als er auf einer Autofahrt Abby und den Doc ihre jeweiligen Lebensgeschichten breitwalzen lässt. Das mag zwar durchaus realitätsnah erscheinen – so eine stundenlange Fahrt über Land kann recht ermüdend werden ohne Gespräch –, ist aber zu monologlastig ausgefallen. Zum Glück taucht dies in der Mitte des Buches auf, als es ohnehin zu einer Verschnaufpause kommt bzw. kurz bevor sich der deutlich aktionsreichere Teil der Erzählung anbahnt. Offenbar hatte der Autor noch eine Menge an Informationen über seine Charaktere unterzubringen und der Platz dafür wurde knapp. Die wirklich gelungene Ausformung der Handlungsträger mag dies durchaus rechtfertigen, sicherlich hätten diverse Details jedoch gewinn- und spannungsträchtiger untergebracht werden können.

Wekwerth hält seinen Thriller ansonsten straff im Aufbau, genau bemessen in der Länge und weiß mit stimmungsvollen Bildern zu bestechen – fast kann man den Lärm und Schmutz sinnlich ebenso wahrnehmen wie das nächtliche Haiti, das eine ganz andere, ausgesprochen intensiv-exotische Seite zu offenbaren weiß. "Traumschlange" lässt sich ebenso intensiv in einem Rutsch und ohne Hänger genießen, und überdies nimmt man noch einiges Nachdenken über Haiti und das, wozu Menschen fähig sein können, aus der spannungsreichen Lektüre mit – Was will man mehr erwarten? Und vor internationaler Thrillerkonkurrenz muss sich dieses rundum gelungene Werk keineswegs verstecken. Da kann Rainer Wekwerth sein voriges englisches Pseudonym gern zu den Akten legen und stattdessen den Beweis antreten, dass die deutsche Autorenschaft durchaus noch gelungene und sorgfältig orchestrierte Spannungsliteratur hervorbringen kann.

geschrieben am 21.03.2005 | 1436 Wörter | 8926 Zeichen

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