Navigation

Seiten der Rubrik "Bücher"


Google Anzeigen

Anzeigen

Bücher

Revolution der Demokratie. Eine Realutopie für die schweigende Mehrheit


Statistiken
  • 6487 Aufrufe

Informationen zum Buch
  ISBN
  Autor
  Verlag
  Sprache
  Seiten
  Erscheinungsjahr
  Extras

Rezension von

Daniel Bigalke

Revolution der Demokratie. Eine Realutopie für die schweigende Mehrheit Dieses Buch markiert Heinrichs’ praktische Konsequenz im Bereich des Politischen, die er hervorgehend aus dem von ihm erkannten Scheideweg zieht. Was hier in elf Kapiteln geboten wird, ist ein schwerwiegender Einschnitt in die bisherige Demokratie-Literatur, da Heinrichs eine gesamte Staatsform ohne Vorbehalte und im Zusammenhang mit seiner gesamten Theorie komplett neu reflektiert, dies aber in konstruktiver Absicht tut. Im ersten Kapitel stellt er - zum Unbehagen konformitätsbeflissener Politologen - dar, daß „Demokratie“ im 20. Jahrhundert weder theoretisch noch praktisch vollendet sei. Vielmehr berge sie einen permanenten Gestaltungsauftrag in sich. Anschließend bietet er eine historische Untermauerung dieser These, um von da auf seinen „Systematischen Grundansatz“ (Kapitel 3) zu kommen. Bei dieser konzentrierten anthropologischen Grundlegung resümiert Heinrichs seine persönlichen Konsequenzen aus der Habermas-Luhmann-Debatte um Handlungs- und Systemtheorie, zu der er bereits seit seinen ersten sozialphilosophischen Vorlesungen („Reflexion als soziales System“, 1976) Stellung bezog. Die Entstehung sozialer Systeme aus Handlungen - hier liegt der entscheidende von Heinrichs zur Vermittlung der Debatte erkannte Punkt - erfolgt durch sich intersubjektiv reflektierende und ihre jeweilige Intention wechselseitig abspiegelnde Handlungen. Das ergibt die reflexionslogische Vierstufung: unreflektierte Beziehung, einfach reflektierte Beziehung, doppelt gegenläufig reflektierte Beziehung und Abschlußreflexion. Er verdeutlicht dies ähnlich wie schon 1976 am Modell des Aneinander-Denkens. Dieser „Selbstbezug-im-Fremdbezug“ (77) stellt die praktische soziale Reflexion dar, von der im „Scheideweg“ bereits die Rede war. Sie ist das entscheidende Kernparadigma bei Heinrichs, welches es ihm erlaubt, den missing link zwischen Habermas und Luhmann, die zu viele ungelöste Fragen hinterlassen haben, für sich in Anspruch nehmen zu können. Den Schritt zur institutionalisierten Politik vollzieht Heinrichs, indem er das interpersonale Reflexionsverhältnis auf die Subsysteme der Gesellschaft überträgt (Wirtschaft, Politik, Kultur und weltanschaulich-religöse Letztwerte). Der Leser merkt bereits hier, daß es Heinrichs um mehr geht: Er fordert - eigentlich nur folgerichtig - die Aufspaltung der legislativen Gesetzgebungskörperschaft, nämlich die unabhängige Wahl eines Grundwerteparlaments (4), Kulturparlaments (3), Politikparlaments (2) und Wirtschaftsparlaments(1) (118ff). Zugleich führe diese entscheidende Differenzierung des Parlaments auch die Differenzierung der Exekutive in eine Verwaltungs- und eine Regierungsexekutive mit sich. Was hier dem unpolitischen Politikwissenschaftler ein Greuel wäre, ist bei genauerer Kenntnis von Heinrichs’ Schriften lediglich die praktische Entfaltung seines konstruktiven Paradigmas, welches sich in kritischer Schärfe und in erkenntnistheoretisch unanfechtbarer Herleitung korrigierend über die zunehmende Dysfunkionalität der heutigen Nachkriegsdemokratie wölbt. Zugleich aber - und das dürfte die in der Tradition der „Demokratiewissenschaft“ stehenden Politologen der Nachkriegszeit versöhnen - verknüpft Heinrichs das liberale angloamerikanische mit dem direktdemokratischen kontinentalen Erbe von Demokratie. Über Wege zur Umsetzung seines Konzeptes läßt er den Leser nicht im Dunkeln. In Fragen der „Revolution“ oder der „Evolution“ geht Heinrichs auf Hölderlins Weg vom Revolutionär zum Evolutionär ein (362). Wieder kommt es ihm darauf an, sich innerhalb einer größeren Kontinuität zu sehen, sich in die deutsche Geistesgeschichte einzuordnen, zu der neben Fichte und Hegel auch Hölderlin und Marx gehören. Sein Ansatz, der konkret und praktikabel erscheint, speist sich damit aus einem normativ-kulturell verstandenen Politikbegriff, der entgegen der dominierenden Politologie durchaus andeutet, daß das Neureflektieren von Demokratie entsprechend der deutschen philosophischen Geistesgeschichte noch zu absolvieren ist und sich die deutsche Nachkriegs-Politologie entsprechend auf einen fruchtbaren Kern ihrer selbst zurückzubesinnen hat. Heinrichs bietet einen Referenzentwurf an, der bei aufgeschlossenem Lesen Vorteile mit sich bringt. Diese lassen sich folgendermaßen verdichten: Versachlichung der Politik, Aufbrechen des Parteienmonopols in eine Einheit von repräsentativer und direkter Demokratie, umfassende Integration und Offenheit sowie denkerische Freiheit, die sich keinem „Entweder-Oder“ sondern einem eindeutigen „Sowohl-als-auch“ von nationaler und transnationaler Perspektive verpflichtet fühlt. Die Leistung dieser klugen und verdienstvollen Untersuchung, die auch der Nürnberger Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider in seinem Vorwort würdigt, liegt in ihrer allumfassenden Systematik. Dies ist deshalb begrüßenswert, weil bisher zahlreiche Autoren wie Hans-Herbert von Arnim oder Erwin K. Scheuch die mangelnde Reformfähigkeit und die mißverstandene Aufgabe von Parteien und Wahlen anprangerten, bisher aber kein grundlegender Reformvorschlag geboten wurde. Die Grenzen des Entwurfs liegen in seinem Vorteil selbst - dem systematischen Ganzen, das dem Leser an einigen Stellen mehr Konkretion hätte bieten müssen. Es fehlt der Raum, um die Details der an fundamentalen Einsichten reichen Argumentation hinlänglich darzustellen. Gelangt die Arbeit zu einer prinzipiell begründeten Neubewertung dessen, was „Demokratie“ ist und wieder sein könnte, so ist eines indes nach vollendeter Lektüre klar: Die gesamtdeutsche Nachkriegsdemokratie hat noch keineswegs ihre vollendete Form erhalten. Vielmehr hat die tabufreie Auseinandersetzung mit ihr erst mit einem solchen Entwurf begonnen. Diesen Versuch hat es in über 60 Jahren noch nicht gegeben.

Dieses Buch markiert Heinrichs’ praktische Konsequenz im Bereich des Politischen, die er hervorgehend aus dem von ihm erkannten Scheideweg zieht. Was hier in elf Kapiteln geboten wird, ist ein schwerwiegender Einschnitt in die bisherige Demokratie-Literatur, da Heinrichs eine gesamte Staatsform ohne Vorbehalte und im Zusammenhang mit seiner gesamten Theorie komplett neu reflektiert, dies aber in konstruktiver Absicht tut.

weitere Rezensionen von Daniel Bigalke


Im ersten Kapitel stellt er - zum Unbehagen konformitätsbeflissener Politologen - dar, daß „Demokratie“ im 20. Jahrhundert weder theoretisch noch praktisch vollendet sei. Vielmehr berge sie einen permanenten Gestaltungsauftrag in sich. Anschließend bietet er eine historische Untermauerung dieser These, um von da auf seinen „Systematischen Grundansatz“ (Kapitel 3) zu kommen. Bei dieser konzentrierten anthropologischen Grundlegung resümiert Heinrichs seine persönlichen Konsequenzen aus der Habermas-Luhmann-Debatte um Handlungs- und Systemtheorie, zu der er bereits seit seinen ersten sozialphilosophischen Vorlesungen („Reflexion als soziales System“, 1976) Stellung bezog. Die Entstehung sozialer Systeme aus Handlungen - hier liegt der entscheidende von Heinrichs zur Vermittlung der Debatte erkannte Punkt - erfolgt durch sich intersubjektiv reflektierende und ihre jeweilige Intention wechselseitig abspiegelnde Handlungen. Das ergibt die reflexionslogische Vierstufung: unreflektierte Beziehung, einfach reflektierte Beziehung, doppelt gegenläufig reflektierte Beziehung und Abschlußreflexion. Er verdeutlicht dies ähnlich wie schon 1976 am Modell des Aneinander-Denkens. Dieser „Selbstbezug-im-Fremdbezug“ (77) stellt die praktische soziale Reflexion dar, von der im „Scheideweg“ bereits die Rede war. Sie ist das entscheidende Kernparadigma bei Heinrichs, welches es ihm erlaubt, den missing link zwischen Habermas und Luhmann, die zu viele ungelöste Fragen hinterlassen haben, für sich in Anspruch nehmen zu können.

Den Schritt zur institutionalisierten Politik vollzieht Heinrichs, indem er das interpersonale Reflexionsverhältnis auf die Subsysteme der Gesellschaft überträgt (Wirtschaft, Politik, Kultur und weltanschaulich-religöse Letztwerte). Der Leser merkt bereits hier, daß es Heinrichs um mehr geht: Er fordert - eigentlich nur folgerichtig - die Aufspaltung der legislativen Gesetzgebungskörperschaft, nämlich die unabhängige Wahl eines Grundwerteparlaments (4), Kulturparlaments (3), Politikparlaments (2) und Wirtschaftsparlaments(1) (118ff). Zugleich führe diese entscheidende Differenzierung des Parlaments auch die Differenzierung der Exekutive in eine Verwaltungs- und eine Regierungsexekutive mit sich. Was hier dem unpolitischen Politikwissenschaftler ein Greuel wäre, ist bei genauerer Kenntnis von Heinrichs’ Schriften lediglich die praktische Entfaltung seines konstruktiven Paradigmas, welches sich in kritischer Schärfe und in erkenntnistheoretisch unanfechtbarer Herleitung korrigierend über die zunehmende Dysfunkionalität der heutigen Nachkriegsdemokratie wölbt. Zugleich aber - und das dürfte die in der Tradition der „Demokratiewissenschaft“ stehenden Politologen der Nachkriegszeit versöhnen - verknüpft Heinrichs das liberale angloamerikanische mit dem direktdemokratischen kontinentalen Erbe von Demokratie. Über Wege zur Umsetzung seines Konzeptes läßt er den Leser nicht im Dunkeln. In Fragen der „Revolution“ oder der „Evolution“ geht Heinrichs auf Hölderlins Weg vom Revolutionär zum Evolutionär ein (362). Wieder kommt es ihm darauf an, sich innerhalb einer größeren Kontinuität zu sehen, sich in die deutsche Geistesgeschichte einzuordnen, zu der neben Fichte und Hegel auch Hölderlin und Marx gehören. Sein Ansatz, der konkret und praktikabel erscheint, speist sich damit aus einem normativ-kulturell verstandenen Politikbegriff, der entgegen der dominierenden Politologie durchaus andeutet, daß das Neureflektieren von Demokratie entsprechend der deutschen philosophischen Geistesgeschichte noch zu absolvieren ist und sich die deutsche Nachkriegs-Politologie entsprechend auf einen fruchtbaren Kern ihrer selbst zurückzubesinnen hat. Heinrichs bietet einen Referenzentwurf an, der bei aufgeschlossenem Lesen Vorteile mit sich bringt. Diese lassen sich folgendermaßen verdichten: Versachlichung der Politik, Aufbrechen des Parteienmonopols in eine Einheit von repräsentativer und direkter Demokratie, umfassende Integration und Offenheit sowie denkerische Freiheit, die sich keinem „Entweder-Oder“ sondern einem eindeutigen „Sowohl-als-auch“ von nationaler und transnationaler Perspektive verpflichtet fühlt.

Die Leistung dieser klugen und verdienstvollen Untersuchung, die auch der Nürnberger Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider in seinem Vorwort würdigt, liegt in ihrer allumfassenden Systematik. Dies ist deshalb begrüßenswert, weil bisher zahlreiche Autoren wie Hans-Herbert von Arnim oder Erwin K. Scheuch die mangelnde Reformfähigkeit und die mißverstandene Aufgabe von Parteien und Wahlen anprangerten, bisher aber kein grundlegender Reformvorschlag geboten wurde. Die Grenzen des Entwurfs liegen in seinem Vorteil selbst - dem systematischen Ganzen, das dem Leser an einigen Stellen mehr Konkretion hätte bieten müssen. Es fehlt der Raum, um die Details der an fundamentalen Einsichten reichen Argumentation hinlänglich darzustellen. Gelangt die Arbeit zu einer prinzipiell begründeten Neubewertung dessen, was „Demokratie“ ist und wieder sein könnte, so ist eines indes nach vollendeter Lektüre klar: Die gesamtdeutsche Nachkriegsdemokratie hat noch keineswegs ihre vollendete Form erhalten. Vielmehr hat die tabufreie Auseinandersetzung mit ihr erst mit einem solchen Entwurf begonnen. Diesen Versuch hat es in über 60 Jahren noch nicht gegeben.

geschrieben am 10.11.2006 | 713 Wörter | 5022 Zeichen

Kommentare lesen Kommentar schreiben

Kommentare zur Rezension (0)

Platz für Anregungen und Ergänzungen