ISBN | 3412264059 | |
Autor | Lüder Meyer-Arndt | |
Verlag | Böhlau | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 408 | |
Erscheinungsjahr | 2006 | |
Extras | gebundene Ausgabe |
In seinem Buch über „Die Julikrise 1914“ geht der Hobbyhistoriker Lüder Meyer-Arndt mit der diplomatischen ebenso wie mit der historischen Zunft hart ins Gericht. Die Historiker hätten das sträfliche Versagen der politischen Elite im Juli/August 1914 mit der bereitwillig übernommenen These von einem „kalkulierten Risiko“ allzu beharrlich schöngeredet. Das Risiko, das 1914 eingegangen wurde, sei – so die These seines Buches – eben gerade nicht „kalkuliert“ gewesen, sondern die deutsche Reichsleitung hätte sich – im vollen Bewusstsein der eigenen militärischen Unterlegenheit – für die österreichische Abenteurerpolitik in verantwortungsloser Trägheit einspannen lassen. In der Wilhelmstrasse hätten Dummheit, Mittelmaß, Fatalismus und Entschlusslosigkeit regiert und so einen Krieg begünstigt, der – so Meyer-Arndt – bei entschlossener politischer Führung noch nach der russischen Generalmobilmachung zu verhindern gewesen wäre. Um diese These zu stützen, steigt der Autor tief in die Quellen hinein, aus denen er ausführlich zitiert und die dem Leser einen lebendigen Eindruck der diplomatischen Abläufe zwischen Berlin, Wien, Petersburg und London vermitteln.
Meyer-Arndts minutiöse Rekonstruktion der Julikrise verweist all jene Historiker in ihre Schranken, die noch immer von einem von langer Hand vorbereiteten, auf Weltherrschaft abzielenden Angriffskrieg ausgehen. So viel an übereilter Improvisation und stupender Hilflosigkeit wäre mit dieser These schwer zu vereinbaren! Auch der sogenannte „Kriegsrat“ vom 8. Dezember 1912, in dem nach Ansicht Fritz Fischers die Weichen zum Kriege gestellt worden seien, wird von dem Juristen Meyer-Arndt als von Historikern „hochgespieltes“ Nebenereignis abgetan. Im Gegenteil findet er es eher bezeichnend, dass keinerlei Vorkehrungen für den Kriegsfall getroffen worden seien: die dringend gebotene Heeresvermehrung wurde auf Drängen eines seine „Demokratisierung“ fürchtenden Offizierskorps reduziert; vom Generalstab angeregte Planspiele scheiterten am Einspruch eines den Ernstfall verdrängenden Kaisers, und auf nüchterne Kalkulatoren wie Ludendorff wurde nicht gehört. Nur vor diesem Hintergrund sei das als „dilettantisch“ und „hilflos“ apostrophierte Handeln der deutschen Diplomaten in der Julikrise 1914 überhaupt verständlich.
Um – auch überaus brüske – Wertungen ist der Autor nicht verlegen. Insbesondere Reichskanzler von Bethmann Hollweg und sein Staatssekretär von Jagow sind vor teilweise vernichtenden Urteilen nicht gefeit, wobei sich der Autor – je nach Bedarf – auf den radikalen Pazifisten Richard Grelling oder auf den deutschnationalen Historiker Johannes Haller, beides Zeitgenossen, beruft. Wenn er im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine deutsch-englische Mediation den Reichskanzler einer „verabscheuungswürdigen Lüge“ zeiht, so leistet er dem wissenschaftlichen Anspruch des Buches fraglos einen Bärendienst. Auch die Kriegsbereitschaft der preußischen Staatsminister ist mit dem Satz: „Sie waren so konservativ wie irgendwer“, wohl kaum adäquat umrissen. Kleinere Ungenauigkeiten – Theodor Wolff war Chefredakteur, nicht Herausgeber des „Berliner Tageblatts“; Albert Südekum ist niemals Mitglied des Parteivorstands der SPD gewesen, und eine „Konservative Partei“, von der Müller-Arndt beharrlich fabuliert, hat es nie gegeben – fallen demgegenüber wenig ins Gewicht.
Alles in allem ist die Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkrieges als eines aus Unfähigkeit geborenen „Verzweiflungskrieges“ überzeugend nachgezeichnet. Der wissenschaftliche Mehrwert steht jedoch dahin. Denn dass der „Blankoscheck“ des Kaisers eine Dummheit war, die er zu spät zu korrigieren versuchte, dass das Ringen um Englands Neutralität und eine internationale Schlichtung des österreichisch-serbischen Konfliktes von allen Seiten kraftvoller hätte ins Werk gesetzt werden müssen und dass der deutsche Reichskanzler dem Geschehen nahezu passiv und wie gelähmt gegenüberstand – all das war auch vor Meyer-Arndts Buch hinlänglich bekannt. Die Ursache des Ersten Weltkrieges als der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) in dem politischen Versagen einer Handvoll deutscher Bürokraten zu entdecken, ist vielleicht ein wenig kurz gegriffen…
geschrieben am 07.01.2008 | 561 Wörter | 3799 Zeichen
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