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Die Zeit in Karten: Eine Bilderreise durch die Geschichte


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Rezension von

Hiram Kümper

Die Zeit in Karten: Eine Bilderreise durch die Geschichte „… das schönste Buch des Jahres“, nannte die New York Times die amerikanische Originalausgabe dieses nun in deutscher Übersetzung erschienenen Werkes. Zu Recht. Unglaublich schön ist es geworden, auch in der verlegerischen Umsetzung hierzulande. Fast etwas blass wirkt dagegen der Titel der deutschen Übersetzung, ganz gleich wie nahe sie liegt und wie korrekt sie in formaler Hinsicht ist – „Cartographies of Time“ hieß die 2010 erschienene Originalausgabe. Denn was würde man von einem solchen Titel wohl erwarten? Einen Zusammenhang von Land- oder Weltkarten und Geschichte – und damit ein Feld, das, ganz gleich wie spannend, in den letzten Jahren doch sehr, sehr beackert worden ist; im Übrigen insbesondere von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft bzw. dem Verlag Philipp Zabern. Nur ein weiteres Werk also, das uns durch die bunte Geschichte der Kartographie führt? Nein. Man muss den Titel schon ernst nehmen: Es geht nicht um Karten in der Zeit, sondern um die Zeit in Karten, besser gesagt: um die Zeit in organisierenden Bildern. Wie man die Zeit, dieses körperlose und doch so wirkmächtige Etwas, bildlich greifen könne, das nämlich beschäftigt die Menschheit schon seit ewigen Zeiten – und Rosenberg und Grafton haben nun erstmals den Versuch vorlegt, eine Geschichte dieser Beschäftigung vorzulegen. Wer einmal in Ruhe darüber nachdenkt, wird bemerken, dass wir Zeit üblicherweise in räumlichen Sprachbildern ausdrücken: etwas liegt „vor“ dem einen oder „nach“ dem anderen Zeitpunkt, die Zeit gerät uns „lang“ oder eben manchmal auch „kurz“. Und so haben wir uns auch daran gewöhnt, Zeit als linearen Prozess ins Bild zu setzen, auf dem Zeitpunkte und Zeiträume entsprechend in Distanz zueinander eingetragen werden können. Wer könnte sich nicht an die quälenden Zeitleisten aus dem schulischen Geschichtsunterricht erinnern?! Aber es gibt natürlich viel elaboriertere Umsetzungen von Zeit in Graphik – auch lange bevor Einstein uns die Chimäre von der Linearität der Zeit genommen hat. Grafton und Rosenberg führen uns durch die Mediengeschichte dieser Versuche, Zeit auf Fläche zu bringen. Der Schwerpunkt liegt nach einigen Ausflügen bis in die Frühgeschichte zurück explizit auf der europäisch-amerikanischen Geschichte der Neuzeit, der Jahrhunderte also zwischen Renaissance und Gegenwart. Einen Wendepunkt sehen die Autoren im 18. Jahrhundert, im Laufe dessen die Synopse, die tabellarische Darstellung von Zeit, geradezu zum Symbol historischen Verständnisses avancierte. Es bleibt aber durchaus nicht bei der Beschreibung bloß akademischer oder propädeutischer Herangehensweise elfenbeinturmartiger Geschichtsvermessung. Auch das konkrete soziale und politische Wirken von Zeit und Zeitdarstellung zeigen Grafton und Rosenberg auf, etwa am Beispiel der westwärts ziehenden amerikanischen Siedler, die Zeitleisten geradezu als Missionswerkzeuge einsetzten. Diese und andere Beispiele zeigen durch das gesamte Buch hindurch, dass die Kontrolle über die Zeit und ihre Darstellung immer wieder auch eine Machtinstrument ersten Ranges gewesen sind. Das ist ein Thema, das die Autoren nachdrücklich beschäftigt, und das sie auf eindrückliche Weise nachzeichnen. Und das gilt bis in die allerjüngste Gegenwart. Das reich illustrierte, elegant geschriebene Buch ist eine Freude und eine große Anregung für jeden, der sich mit der Wirksamkeit von Geschichte und Geschichtsschreibung auseinandersetzt – denn hier sehen wir viel subkutanere, perfidere und zugleich ungleich banalere, alltäglichere, zugleich aber eben nicht weniger wirkmächtige Mechanismen am Werk als die großen Texte der Geschichtsdarstellung. Das ist eindrücklich. Man wünscht sich eigentlich nur eines: eine Komplementärstudie, die auch die außereuropäische Welt einmal in den Blick nimmt. Dazu hätten Anthropologen sicher das eine oder andere zu sagen. „Europäer haben Uhren, Afrikaner haben Zeit“, heißt ein altes afrikanisches Sprichwort. Was das für visuelle, systematische – und dann eben auch: gesellschaftliche Folgen hat, das wäre spannend zu erfahren. Also: wir warten gespannt auf eine Fortsetzung.

„… das schönste Buch des Jahres“, nannte die New York Times die amerikanische Originalausgabe dieses nun in deutscher Übersetzung erschienenen Werkes. Zu Recht. Unglaublich schön ist es geworden, auch in der verlegerischen Umsetzung hierzulande.

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Fast etwas blass wirkt dagegen der Titel der deutschen Übersetzung, ganz gleich wie nahe sie liegt und wie korrekt sie in formaler Hinsicht ist – „Cartographies of Time“ hieß die 2010 erschienene Originalausgabe.

Denn was würde man von einem solchen Titel wohl erwarten? Einen Zusammenhang von Land- oder Weltkarten und Geschichte – und damit ein Feld, das, ganz gleich wie spannend, in den letzten Jahren doch sehr, sehr beackert worden ist; im Übrigen insbesondere von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft bzw. dem Verlag Philipp Zabern. Nur ein weiteres Werk also, das uns durch die bunte Geschichte der Kartographie führt?

Nein. Man muss den Titel schon ernst nehmen: Es geht nicht um Karten in der Zeit, sondern um die Zeit in Karten, besser gesagt: um die Zeit in organisierenden Bildern. Wie man die Zeit, dieses körperlose und doch so wirkmächtige Etwas, bildlich greifen könne, das nämlich beschäftigt die Menschheit schon seit ewigen Zeiten – und Rosenberg und Grafton haben nun erstmals den Versuch vorlegt, eine Geschichte dieser Beschäftigung vorzulegen.

Wer einmal in Ruhe darüber nachdenkt, wird bemerken, dass wir Zeit üblicherweise in räumlichen Sprachbildern ausdrücken: etwas liegt „vor“ dem einen oder „nach“ dem anderen Zeitpunkt, die Zeit gerät uns „lang“ oder eben manchmal auch „kurz“. Und so haben wir uns auch daran gewöhnt, Zeit als linearen Prozess ins Bild zu setzen, auf dem Zeitpunkte und Zeiträume entsprechend in Distanz zueinander eingetragen werden können. Wer könnte sich nicht an die quälenden Zeitleisten aus dem schulischen Geschichtsunterricht erinnern?!

Aber es gibt natürlich viel elaboriertere Umsetzungen von Zeit in Graphik – auch lange bevor Einstein uns die Chimäre von der Linearität der Zeit genommen hat. Grafton und Rosenberg führen uns durch die Mediengeschichte dieser Versuche, Zeit auf Fläche zu bringen. Der Schwerpunkt liegt nach einigen Ausflügen bis in die Frühgeschichte zurück explizit auf der europäisch-amerikanischen Geschichte der Neuzeit, der Jahrhunderte also zwischen Renaissance und Gegenwart. Einen Wendepunkt sehen die Autoren im 18. Jahrhundert, im Laufe dessen die Synopse, die tabellarische Darstellung von Zeit, geradezu zum Symbol historischen Verständnisses avancierte. Es bleibt aber durchaus nicht bei der Beschreibung bloß akademischer oder propädeutischer Herangehensweise elfenbeinturmartiger Geschichtsvermessung. Auch das konkrete soziale und politische Wirken von Zeit und Zeitdarstellung zeigen Grafton und Rosenberg auf, etwa am Beispiel der westwärts ziehenden amerikanischen Siedler, die Zeitleisten geradezu als Missionswerkzeuge einsetzten. Diese und andere Beispiele zeigen durch das gesamte Buch hindurch, dass die Kontrolle über die Zeit und ihre Darstellung immer wieder auch eine Machtinstrument ersten Ranges gewesen sind. Das ist ein Thema, das die Autoren nachdrücklich beschäftigt, und das sie auf eindrückliche Weise nachzeichnen. Und das gilt bis in die allerjüngste Gegenwart.

Das reich illustrierte, elegant geschriebene Buch ist eine Freude und eine große Anregung für jeden, der sich mit der Wirksamkeit von Geschichte und Geschichtsschreibung auseinandersetzt – denn hier sehen wir viel subkutanere, perfidere und zugleich ungleich banalere, alltäglichere, zugleich aber eben nicht weniger wirkmächtige Mechanismen am Werk als die großen Texte der Geschichtsdarstellung. Das ist eindrücklich.

Man wünscht sich eigentlich nur eines: eine Komplementärstudie, die auch die außereuropäische Welt einmal in den Blick nimmt. Dazu hätten Anthropologen sicher das eine oder andere zu sagen. „Europäer haben Uhren, Afrikaner haben Zeit“, heißt ein altes afrikanisches Sprichwort. Was das für visuelle, systematische – und dann eben auch: gesellschaftliche Folgen hat, das wäre spannend zu erfahren. Also: wir warten gespannt auf eine Fortsetzung.

geschrieben am 18.10.2015 | 584 Wörter | 3510 Zeichen

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