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Tabak und Gesellschaft. Vom braunen Gold zum sozialen Stigma.


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Rezension von

Dr. Philipp Küsgens

Tabak und Gesellschaft. Vom braunen Gold zum sozialen Stigma. Niemand käme mehr auf die Idee, Tabak und Tabakkonsum aus einer rein wirtschaftshistorischen Perspektive zu untersuchen. Lange schon sucht man vielmehr die Praktiken des Tabakkonsums, seiner Reglementierung und gesellschaftlichen Bedeutung für die Forschung ertragreicht zu machen. Die historische Genussmittelforschung war eines der ersten Felder, dass in vollem Maß vom „cultural turn“ erfasst wurde. Dieser Trend ist ungebrochen, wie die Dominanz kulturgeschichtlicher Zugriffe auf das Thema Genussmittel beweist. Auch dieser Sammelband fügt sich in diese Strömung der Forschung ein. Wenig überraschend stellen die Herausgeber die Frage nach der Beziehung zwischen Tabak und Gesellschaft in den Mittelpunkt und wollen herausarbeiten, wie dieses Kulturgut gesellschaftliches Leben politisch, sozial, wirtschaftlich und vor allem kulturell prägte. Der Wirtschaftsgeschichte dennoch genug Platz eingeräumt – zurecht, denn erst die breite Kommerzialisierung von Tabak machte den massenhaften und alle Gesellschaftsschichten erfassenden Konsum möglich, der die Praktiken des Konsums zum bevorzugten Forschungsfeld machte. Ein auf wenige soziale Enklaven beschränktes Genussmittel hätte wohl kaum ein derart breite Forschungsinteresse hervorgerufen. Und in der Tat, wer sich für Wertekonsens und Struktur einer Gesellschaft interessiert, kann durch den Umgang mit Tabakkonsum einiges erfahren. Ein Hauptmotiv (hier ist sich die Forschung einig) ist soziale Distinktion und Nutzen von Tabakkonsum als Statussymbol, und es ist vor allem diese Funktion, die der Band behandelt. Auch wenn diese Fragestellung in ihrer methodischen Anlage also kaum Neues bietet, ist der Ansatz gelungen umgesetzt und bietet mehr als einen lesenswerten Aufsatz. Will man die Beiträge nach ihrem methodischen Zugriff ordnen, können grob drei Perspektiven unterschieden werden: Erstens wirtschaftshistorisch orientierte Studien, zweitens die Frage nach sozialen Praktiken und ihrer Reglementierung, drittens schließlich Lokalstudien, die die Vorigen auf ein Beispiel anwenden. Es können hier nicht alle erschöpfend gewürdigt werden, stattdessen greife ich für jede Perspektive repräsentative Beiträge heraus. Zur Gruppe der wirtschaftshistorischen Beiträge gehört der Auftakt der Herausgeber „Tabak: Eine globalhistorische Einführung“, der das Ziel des Bandes vorgibt: Die Beiträge versuchen, einen detaillierten Einblick in die Vielfältigkeit der Tabakgeschichte und seine Wirkungsebene als Kulturpflanze zu geben. Dieser Beitrag ist knapp gehalten und gerade deshalb gelungen: Er bietet eine erste Zusammenfassung der wirtschaftshistorischen Fakten, die man bei der kommenden Lektüre ruhig im Hinterkopf haben sollte. Ein wahrer Glücksfall in der wirtschaftshistorischen Sektion ist der Beitrag von Jörg Pannier. Viel zu selten bekommt man so profunde und gut recherchierte Information in so klarem und mitreißenden Stil präsentiert. Pannier erklärt ohne Schnörkel die Erfindung des Schnupftabaks Snuff im frühen 18. Jh. in England und die Gründe für seinen Aufstieg zur beliebtesten und meist verbreiteten Form des Tabakgenusses im 18. Jh. Am Anfang stand eine eher unabsichtlich erbeutete Ladung von 50 Tonnen spanischen Schnupftabaks, der in England wegen des niedrigen Preises und der hervorragenden Qualität reißenden Absatz fand. Leider war kein Nachschub zu bekommen, weil England während des andauernden Spanischen Erbfolgekrieges keine regulären Handelsbeziehungen mit Spanien pflegte. Das Embargo befeuerte die Suche nach einem Qualitätsprodukt aus eigener Herstellung und führte zur Rezeptur des Snuff. Die Verbraucher waren begeistert, und bis zum viktorianischen Zeitalter blieb Tabakschnupfen Mode in allen gesellschaftlichen Schichten. Bei so viel Verve verzeiht man Pannier leicht, dass seine eingangs formulierte These, die Verbreitung von Snuff und anderen Schnupftabaksorten verlaufe entlang konfessioneller Grenzen (er zieht eine Grenze zwischen katholischem Schmalzler und protestantischem Snuff) nicht weiter trägt: Der Autor legt nachvollziehbar dar, dass es ja gerade das Nachfrageproblem war, dass zum Snuff führte. Der Wunsch nach Abgrenzung gegen katholische Gebiete scheint hier nur nachträglich aufgesetzt. Allein mit der Wirkungsebene befasst sich Hans Jörg Schmidt in „Tabak als Medium des Sozialen“. Seine These, von Tabakkonsum könne auf soziale Phänome geschlossen werden, buchstabiert er überzeugend aus und erläutert diese Verbindung anhand der Leitbegriffe „Schicht“, „Geschlecht“, „Protest“ und „Krieg“. Tatsächlich kann der Historiker schichtenspezifische Unterschiede im Tabakkonsum erkennen, ebenso geschlechtsabhängige Praktiken und Sanktionen. Die Betrachtung von Rauchen als Protest erläutert Schmidt anhand gesellschaftlichen Protests (die öffentliche rauchenden Frauen um George Sand) und sozial-politischer Organisation: Die Arbeiter der Tabakindustrie gehörten zu den Vorreitern der Gewerkschaftsbewegung. Der Leitbegriff Krieg gewinnt in der historischen Deutung sowohl wirtschaftliches Gewicht (der Krimkrieg 1853–1856 war der Startschuss für die Verbreitung der Zigarette in Europa) als auch die Erkenntnis, dass Tabakkonsum eine entlastende Ersatzhandlung in Stresssituationen ist. Schmidts Schreibstil ist leider stark von Jargon geprägt und legt dem Leser unnötige Hindernisse in den Weg. Den Tabakkonsum anhand der Leitbegriffe historisch zu erläutern überzeugt jedoch durchaus und ist eine erfrischende und instruktive Abwechslung von einer chronologisch gegliederten Erläuterung. Ebenso instruktiv ist Elisabeth Schöggl-Ernsts Studie über die Tabakfabrik Fürstenfeld in der Steiermark. Dier Aufsatz zeigt den immer noch oft unterschätzten Wert lokalhistorischer Studien, die letztendlich das umsetzen, was die Theorie häufig nur als Wunsch formuliert: Fallstudien, die die tatsächlichen Verhältnisse an einem konkreten Beispiel aufzeigen. Der Autorin ist es gelungen, den Leser nicht allein vom 17. bis 20. Jh. entlang der Bedeutung des Tabaks für eine ganze Region vertraut zu machen, sondern mit diesem Beispiel auch übergeordnete Themen mit einzubeziehen – staatlicher Zugriff auf Tabakverarbeitung qua Monopol, Entstehung der Sozialkassen, Kinderarbeit, Migration, öffentliche Hygiene. Der Aufsatz ist damit durchaus für andere Studien anschlussfähig. Zwei Aufsätze verdienen besondere Beachtung, weil sie die Sicht auf das Thema um wesentliche Aspekte erweitern. Die Kunsthistorikerin Agnes Thum geht unter dem Titel „Rauchende Künstler“ der Bildsprache auf den Grund, mit der Schauspieler, Maler, Musiker und andere durch Rauchen ihre Schöpferkraft versinnbildlichen. Sie erinnert daran, dass Rauchen als Darstellung von Unangepasstheit, von Freiheitsdrang, ja ganz generell von Verweigerung gesellschaftlicher Normen erst möglich ist, seit das Rauchen in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich radikal umbewertet wurde. Die in früheren Zeiten üblichen Versammlungen rauchender Männer im Herrenzimmer taugten kaum zur Darstellung von Rebellentum. Thum stellt die Frage nach den Zuschreibungen von Tabakkonsum vor seiner Umdeutung in jüngster Zeit und stößt auf das Rauchen als Symbol rauschhafter Inspiration. Dieses Motiv entdeckt sie bereits im „goldenen Zeitalter“ der Niederlande im 17. Jh. und verfolgt es bis in die 1920er Jahre. Sie arbeitet dabei eine eine Tradition der Darstellung von Rausch und Inspiration heraus, bei der Tabak eine zentrale Rolle spielte. Ein Wermutstropfen sind die schlecht geratenen Reproduktionen der Abbildungen, die dem Leser den Bilderteil von Thums Argumentation oft ganz vorenthalten. Dieser Aufsatz hätte von Verlagsseite bessere Bilder verdient, denn er zeigt sehr schlüssig, dass Tabak ein Mittel der sozialen Selbstinszenierung war und ist. Der globalhistorische Anspruch der Tabaksgeschichtsschreibung wird eingelöst in Han-Hsiu Chens „Tobacco Agriculture as Heritage – A Dramatic Story of Dangerous Crop“. Chen informiert über die Geschichte und den Stellenwert des Tabakanbaus in Taiwan und reflektiert die Erinnerungskultur, die sich seit dessen Niedergang institutionalisiert hat. Dabei verweist er auf die gesellschaftlichen Auswirkungen, den der Niedergang des Tabaks hatte: Vom einstigen Motor der Wirtschaft in Taiwan ist er seit den 1980ern zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Erfreulich ist, dass Chen durch einen vergleichenden Seitenblick auf die Situation in Griechenland (dazu auch der Beitrag von Konstantinos Lalenis im Band) die Untersuchung über den Horizont einer Lokalstudie hinaus erweitert und den Blick für ähnliche Strukturen und die Prägekraft von Tabak als regionalem Wirtschaftsfaktor schärft. Ein wenig ermüdend allerdings ist der allzu oft wiederkehrende Hinweis auf die gesundheitsschädlichen Folgen des Rauchens. Das ist zwar richtig und verdient Erwähnung, doch macht sich Chen damit die Sicht der Gegenwart zu eigen, die zum Verständnis historischer Dynamiken nur wenig beitragen kann. Fazit: Tabak und Gesellschaft ist sehr gelungen. Der üblichen Mode, Sammelbände zu beschimpfen als verzichtbare Ansammlung von Beiträgen zu einem vage formulierten Thema, mag ich hier nicht folgen. Die Aufsätze sind größtenteils auf hohem Niveau und Beiträge eigenen Rechts, die unser Wissen erweitern. Besonders die Einbeziehung der kunsthistorischen Sichtweise und die Studien über bestimmte Orte und Länder ist eine Bereicherung, die die Forderung nach Interdisziplinarität und Abkehr von der eurozentrischen Perspektive einlöst. Allerdings hätte eine wirkliche Synthese der Herausgeber über die Ergebnisse und Querverbindungen der Beiträge den Wert des Bandes noch steigern können – so bleibt es dem Leser überlassen, das Puzzle zusammenzusetzen und Gewinn aus der Gesamtschau zu ziehen. Der Qualität des Inhalts ist der Broschureinband leider nicht angemessen, der schon nach kurzem Gebrauch auseinanderbricht – für den stolzen Preis hätte man sich ein gebundes Buch gewünscht.

Niemand käme mehr auf die Idee, Tabak und Tabakkonsum aus einer rein wirtschaftshistorischen Perspektive zu untersuchen. Lange schon sucht man vielmehr die Praktiken des Tabakkonsums, seiner Reglementierung und gesellschaftlichen Bedeutung für die Forschung ertragreicht zu machen. Die historische Genussmittelforschung war eines der ersten Felder, dass in vollem Maß vom „cultural turn“ erfasst wurde.

weitere Rezensionen von Dr. Philipp Küsgens


Dieser Trend ist ungebrochen, wie die Dominanz kulturgeschichtlicher Zugriffe auf das Thema Genussmittel beweist. Auch dieser Sammelband fügt sich in diese Strömung der Forschung ein. Wenig überraschend stellen die Herausgeber die Frage nach der Beziehung zwischen Tabak und Gesellschaft in den Mittelpunkt und wollen herausarbeiten, wie dieses Kulturgut gesellschaftliches Leben politisch, sozial, wirtschaftlich und vor allem kulturell prägte. Der Wirtschaftsgeschichte dennoch genug Platz eingeräumt – zurecht, denn erst die breite Kommerzialisierung von Tabak machte den massenhaften und alle Gesellschaftsschichten erfassenden Konsum möglich, der die Praktiken des Konsums zum bevorzugten Forschungsfeld machte. Ein auf wenige soziale Enklaven beschränktes Genussmittel hätte wohl kaum ein derart breite Forschungsinteresse hervorgerufen. Und in der Tat, wer sich für Wertekonsens und Struktur einer Gesellschaft interessiert, kann durch den Umgang mit Tabakkonsum einiges erfahren. Ein Hauptmotiv (hier ist sich die Forschung einig) ist soziale Distinktion und Nutzen von Tabakkonsum als Statussymbol, und es ist vor allem diese Funktion, die der Band behandelt. Auch wenn diese Fragestellung in ihrer methodischen Anlage also kaum Neues bietet, ist der Ansatz gelungen umgesetzt und bietet mehr als einen lesenswerten Aufsatz.

Will man die Beiträge nach ihrem methodischen Zugriff ordnen, können grob drei Perspektiven unterschieden werden: Erstens wirtschaftshistorisch orientierte Studien, zweitens die Frage nach sozialen Praktiken und ihrer Reglementierung, drittens schließlich Lokalstudien, die die Vorigen auf ein Beispiel anwenden. Es können hier nicht alle erschöpfend gewürdigt werden, stattdessen greife ich für jede Perspektive repräsentative Beiträge heraus.

Zur Gruppe der wirtschaftshistorischen Beiträge gehört der Auftakt der Herausgeber „Tabak: Eine globalhistorische Einführung“, der das Ziel des Bandes vorgibt: Die Beiträge versuchen, einen detaillierten Einblick in die Vielfältigkeit der Tabakgeschichte und seine Wirkungsebene als Kulturpflanze zu geben. Dieser Beitrag ist knapp gehalten und gerade deshalb gelungen: Er bietet eine erste Zusammenfassung der wirtschaftshistorischen Fakten, die man bei der kommenden Lektüre ruhig im Hinterkopf haben sollte.

Ein wahrer Glücksfall in der wirtschaftshistorischen Sektion ist der Beitrag von Jörg Pannier. Viel zu selten bekommt man so profunde und gut recherchierte Information in so klarem und mitreißenden Stil präsentiert. Pannier erklärt ohne Schnörkel die Erfindung des Schnupftabaks Snuff im frühen 18. Jh. in England und die Gründe für seinen Aufstieg zur beliebtesten und meist verbreiteten Form des Tabakgenusses im 18. Jh. Am Anfang stand eine eher unabsichtlich erbeutete Ladung von 50 Tonnen spanischen Schnupftabaks, der in England wegen des niedrigen Preises und der hervorragenden Qualität reißenden Absatz fand. Leider war kein Nachschub zu bekommen, weil England während des andauernden Spanischen Erbfolgekrieges keine regulären Handelsbeziehungen mit Spanien pflegte. Das Embargo befeuerte die Suche nach einem Qualitätsprodukt aus eigener Herstellung und führte zur Rezeptur des Snuff. Die Verbraucher waren begeistert, und bis zum viktorianischen Zeitalter blieb Tabakschnupfen Mode in allen gesellschaftlichen Schichten. Bei so viel Verve verzeiht man Pannier leicht, dass seine eingangs formulierte These, die Verbreitung von Snuff und anderen Schnupftabaksorten verlaufe entlang konfessioneller Grenzen (er zieht eine Grenze zwischen katholischem Schmalzler und protestantischem Snuff) nicht weiter trägt: Der Autor legt nachvollziehbar dar, dass es ja gerade das Nachfrageproblem war, dass zum Snuff führte. Der Wunsch nach Abgrenzung gegen katholische Gebiete scheint hier nur nachträglich aufgesetzt.

Allein mit der Wirkungsebene befasst sich Hans Jörg Schmidt in „Tabak als Medium des Sozialen“. Seine These, von Tabakkonsum könne auf soziale Phänome geschlossen werden, buchstabiert er überzeugend aus und erläutert diese Verbindung anhand der Leitbegriffe „Schicht“, „Geschlecht“, „Protest“ und „Krieg“. Tatsächlich kann der Historiker schichtenspezifische Unterschiede im Tabakkonsum erkennen, ebenso geschlechtsabhängige Praktiken und Sanktionen. Die Betrachtung von Rauchen als Protest erläutert Schmidt anhand gesellschaftlichen Protests (die öffentliche rauchenden Frauen um George Sand) und sozial-politischer Organisation: Die Arbeiter der Tabakindustrie gehörten zu den Vorreitern der Gewerkschaftsbewegung. Der Leitbegriff Krieg gewinnt in der historischen Deutung sowohl wirtschaftliches Gewicht (der Krimkrieg 1853–1856 war der Startschuss für die Verbreitung der Zigarette in Europa) als auch die Erkenntnis, dass Tabakkonsum eine entlastende Ersatzhandlung in Stresssituationen ist. Schmidts Schreibstil ist leider stark von Jargon geprägt und legt dem Leser unnötige Hindernisse in den Weg. Den Tabakkonsum anhand der Leitbegriffe historisch zu erläutern überzeugt jedoch durchaus und ist eine erfrischende und instruktive Abwechslung von einer chronologisch gegliederten Erläuterung.

Ebenso instruktiv ist Elisabeth Schöggl-Ernsts Studie über die Tabakfabrik Fürstenfeld in der Steiermark. Dier Aufsatz zeigt den immer noch oft unterschätzten Wert lokalhistorischer Studien, die letztendlich das umsetzen, was die Theorie häufig nur als Wunsch formuliert: Fallstudien, die die tatsächlichen Verhältnisse an einem konkreten Beispiel aufzeigen. Der Autorin ist es gelungen, den Leser nicht allein vom 17. bis 20. Jh. entlang der Bedeutung des Tabaks für eine ganze Region vertraut zu machen, sondern mit diesem Beispiel auch übergeordnete Themen mit einzubeziehen – staatlicher Zugriff auf Tabakverarbeitung qua Monopol, Entstehung der Sozialkassen, Kinderarbeit, Migration, öffentliche Hygiene. Der Aufsatz ist damit durchaus für andere Studien anschlussfähig.

Zwei Aufsätze verdienen besondere Beachtung, weil sie die Sicht auf das Thema um wesentliche Aspekte erweitern. Die Kunsthistorikerin Agnes Thum geht unter dem Titel „Rauchende Künstler“ der Bildsprache auf den Grund, mit der Schauspieler, Maler, Musiker und andere durch Rauchen ihre Schöpferkraft versinnbildlichen. Sie erinnert daran, dass Rauchen als Darstellung von Unangepasstheit, von Freiheitsdrang, ja ganz generell von Verweigerung gesellschaftlicher Normen erst möglich ist, seit das Rauchen in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich radikal umbewertet wurde. Die in früheren Zeiten üblichen Versammlungen rauchender Männer im Herrenzimmer taugten kaum zur Darstellung von Rebellentum. Thum stellt die Frage nach den Zuschreibungen von Tabakkonsum vor seiner Umdeutung in jüngster Zeit und stößt auf das Rauchen als Symbol rauschhafter Inspiration. Dieses Motiv entdeckt sie bereits im „goldenen Zeitalter“ der Niederlande im 17. Jh. und verfolgt es bis in die 1920er Jahre. Sie arbeitet dabei eine eine Tradition der Darstellung von Rausch und Inspiration heraus, bei der Tabak eine zentrale Rolle spielte. Ein Wermutstropfen sind die schlecht geratenen Reproduktionen der Abbildungen, die dem Leser den Bilderteil von Thums Argumentation oft ganz vorenthalten. Dieser Aufsatz hätte von Verlagsseite bessere Bilder verdient, denn er zeigt sehr schlüssig, dass Tabak ein Mittel der sozialen Selbstinszenierung war und ist.

Der globalhistorische Anspruch der Tabaksgeschichtsschreibung wird eingelöst in Han-Hsiu Chens „Tobacco Agriculture as Heritage – A Dramatic Story of Dangerous Crop“. Chen informiert über die Geschichte und den Stellenwert des Tabakanbaus in Taiwan und reflektiert die Erinnerungskultur, die sich seit dessen Niedergang institutionalisiert hat. Dabei verweist er auf die gesellschaftlichen Auswirkungen, den der Niedergang des Tabaks hatte: Vom einstigen Motor der Wirtschaft in Taiwan ist er seit den 1980ern zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Erfreulich ist, dass Chen durch einen vergleichenden Seitenblick auf die Situation in Griechenland (dazu auch der Beitrag von Konstantinos Lalenis im Band) die Untersuchung über den Horizont einer Lokalstudie hinaus erweitert und den Blick für ähnliche Strukturen und die Prägekraft von Tabak als regionalem Wirtschaftsfaktor schärft. Ein wenig ermüdend allerdings ist der allzu oft wiederkehrende Hinweis auf die gesundheitsschädlichen Folgen des Rauchens. Das ist zwar richtig und verdient Erwähnung, doch macht sich Chen damit die Sicht der Gegenwart zu eigen, die zum Verständnis historischer Dynamiken nur wenig beitragen kann.

Fazit: Tabak und Gesellschaft ist sehr gelungen. Der üblichen Mode, Sammelbände zu beschimpfen als verzichtbare Ansammlung von Beiträgen zu einem vage formulierten Thema, mag ich hier nicht folgen. Die Aufsätze sind größtenteils auf hohem Niveau und Beiträge eigenen Rechts, die unser Wissen erweitern. Besonders die Einbeziehung der kunsthistorischen Sichtweise und die Studien über bestimmte Orte und Länder ist eine Bereicherung, die die Forderung nach Interdisziplinarität und Abkehr von der eurozentrischen Perspektive einlöst. Allerdings hätte eine wirkliche Synthese der Herausgeber über die Ergebnisse und Querverbindungen der Beiträge den Wert des Bandes noch steigern können – so bleibt es dem Leser überlassen, das Puzzle zusammenzusetzen und Gewinn aus der Gesamtschau zu ziehen.

Der Qualität des Inhalts ist der Broschureinband leider nicht angemessen, der schon nach kurzem Gebrauch auseinanderbricht – für den stolzen Preis hätte man sich ein gebundes Buch gewünscht.

geschrieben am 21.11.2015 | 1324 Wörter | 8565 Zeichen

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