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Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis


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Rezension von

Matthias Pierre Lubinsky

Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis Gottfried Benn (1886-1956) ist ein Phänomen. Sein Werk und sein Leben scheinen unendlich weit auseinander zu liegen, ja beinahe gegensätzliche Pole zu sein. Einerseits gilt der Lyriker heute unangefochten als einer der bedeutendsten Dichter in deutscher Sprache des vergangenen Jahrhunderts. Vielen gilt er gar als der größte deutsche Sprachmagier des 20. Jahrhunderts überhaupt. Andererseits verlief sein Leben in trister Mediokrität. In Alltäglichem zwischen Arztpraxis und Stammkneipe. Aber vielleicht ist genau dies das Geheimnis seiner schöpferischen Quelle. Holger Hof legt nun eine Benn-Biographie vor, die zum ersten Mal die Tagebuchkladden des Dichters und bisher nicht berücksichtigte Briefe einbezieht. Wer hat sich nicht schon daran versucht, das Leben Benns zu Papier zu bringen? Unter den in der frühen Bundesrepublik erschienenen war 1957 das Büchlein von Thilo Koch um Ausgleich bemüht und suchte, einfache Verurteilungen zu vermeiden. Zum 50. Todestag Benns im Jahr 2006 erschienen gleich mehrere Biographien. Sie alle stellen das Leben Benns dar, doch bleibt ihr Leser stets ein wenig ratlos zurück: Ist das jetzt die ganze Wahrheit? Holger Hof gab bereits 2007 einen Bildband über Benn heraus. Er edierte den Briefwechsel Benns mit Ernst Jünger – eine Annäherung zweier Solitäre, die nicht gelingen sollte. Hof gilt mittlerweile als einer der besten Benn-Kenner. Der in Berlin lebende Autor nähert sich dem Phänomen Benn quasi mit einem Trick: Durch die minutiöse Einbeziehung von Benns Tagebuchkladden und Briefen ergibt sich eine Art Strom der Bennschen Gedankenwelt. Folgerichtig beginnt Hofs Biographie nicht 1886, im Geburtsjahr des Dichters, sondern mit den Jahren 1943 bis 1945, Benns Zusammenbruch. Er erlebte in Berlin das Ende des Naziregimes, die Zerstörung seines hass-geliebten Berlins, das brutale Wüten der russischen Soldaten. Besonders tragisch war der Freitod seiner Frau Herta, die sich in Neuhaus, 60 Kilometer von Berlin entfernt evakuiert, umbrachte. »Ich wünsche mir einen Zusammenbruch,, einen moralischen oder körperlichen, das wäre doch ein Wegweiser, eine Grundlage für die Zukunft, da könnte man Fuss fassen u. ginge nicht mehr in die Irre.« Holger Hof gelingt durch die Symbiose seiner biographischen Schnur mit den täglichen Notizen Benns eine bislang ungekannte Deutlichkeit in der Zeichnung dieses schwierigen Menschen. Hof spekuliert weniger als andere Biographen oder ersetzt Unbekanntes durch eigene Interpretation. Vielmehr lässt er den Portraitierten selbst sprechen – oder schweigen. Und auch dies Schweigen ist beredt, wie die Monate des Unterganges des Deutschen Reiches bis zum September 1945 zeigen, als Benn seine Kladden geschlossen hielt. So setzt Hof diesen zersplitterten Gedichteschöpfer zusammen aus seinen eigenen Notaten: Was habe ich gedacht? Und die Notizen in den Kalendern wären nicht von Benn, wenn sie nicht auch Uhrzeiten, Preise oder andere Zahlen wie von einem Finanzbeamten dokumentierten. Der Biograph zahlt allerdings einen Preis für seine Annäherung. Nicht nur verwendet er als Fundament seiner Lebensschilderung die Aufzeichnungen Benns. Auch benutzt er die Sprache Benns. Das macht das Buch leichter lesbar, bleibt man quasi in derselben Sprachmelodie. Zuweilen schleichen sich jedoch Sätze ein, bei denen man vergebens die Anführungszeichen sucht. Die Bennsche Melodie hat auf den Biographen abgefärbt. Bei der insgesamt herausragenden Dichte und Qualität dieser Biographie jedoch ein leicht zu verzeihender Kotau vor dem Meister. Bisher ist es keiner Benn-Biographie vergleichbar gelungen, ein Gefühl davon zu vermitteln, wie dieser Soldat, Hautarzt, der Liebhaber und Biertrinker, der in seinem Leben doch auch mit wenig zufrieden war, wie dieser Mann aus seinem staubigen Dasein die Gedichte abgerungen hat. Vielleicht war es genau dieses bescheidene Leben in materieller Armut und ohne konstruierte Höhepunkte, das für Gottfried Benn die Bedingung war, zum genialischen Beobachter und Sprachgenie zu werden.

Gottfried Benn (1886-1956) ist ein Phänomen. Sein Werk und sein Leben scheinen unendlich weit auseinander zu liegen, ja beinahe gegensätzliche Pole zu sein. Einerseits gilt der Lyriker heute unangefochten als einer der bedeutendsten Dichter in deutscher Sprache des vergangenen Jahrhunderts. Vielen gilt er gar als der größte deutsche Sprachmagier des 20. Jahrhunderts überhaupt. Andererseits verlief sein Leben in trister Mediokrität. In Alltäglichem zwischen Arztpraxis und Stammkneipe.

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Aber vielleicht ist genau dies das Geheimnis seiner schöpferischen Quelle.

Holger Hof legt nun eine Benn-Biographie vor, die zum ersten Mal die Tagebuchkladden des Dichters und bisher nicht berücksichtigte Briefe einbezieht. Wer hat sich nicht schon daran versucht, das Leben Benns zu Papier zu bringen? Unter den in der frühen Bundesrepublik erschienenen war 1957 das Büchlein von Thilo Koch um Ausgleich bemüht und suchte, einfache Verurteilungen zu vermeiden. Zum 50. Todestag Benns im Jahr 2006 erschienen gleich mehrere Biographien. Sie alle stellen das Leben Benns dar, doch bleibt ihr Leser stets ein wenig ratlos zurück: Ist das jetzt die ganze Wahrheit?

Holger Hof gab bereits 2007 einen Bildband über Benn heraus. Er edierte den Briefwechsel Benns mit Ernst Jünger – eine Annäherung zweier Solitäre, die nicht gelingen sollte. Hof gilt mittlerweile als einer der besten Benn-Kenner. Der in Berlin lebende Autor nähert sich dem Phänomen Benn quasi mit einem Trick: Durch die minutiöse Einbeziehung von Benns Tagebuchkladden und Briefen ergibt sich eine Art Strom der Bennschen Gedankenwelt. Folgerichtig beginnt Hofs Biographie nicht 1886, im Geburtsjahr des Dichters, sondern mit den Jahren 1943 bis 1945, Benns Zusammenbruch. Er erlebte in Berlin das Ende des Naziregimes, die Zerstörung seines hass-geliebten Berlins, das brutale Wüten der russischen Soldaten. Besonders tragisch war der Freitod seiner Frau Herta, die sich in Neuhaus, 60 Kilometer von Berlin entfernt evakuiert, umbrachte.

»Ich wünsche mir einen Zusammenbruch,,

einen moralischen oder körperlichen,

das wäre doch ein Wegweiser,

eine Grundlage für die Zukunft,

da könnte man Fuss fassen u. ginge

nicht mehr in die Irre.«

Holger Hof gelingt durch die Symbiose seiner biographischen Schnur mit den täglichen Notizen Benns eine bislang ungekannte Deutlichkeit in der Zeichnung dieses schwierigen Menschen. Hof spekuliert weniger als andere Biographen oder ersetzt Unbekanntes durch eigene Interpretation. Vielmehr lässt er den Portraitierten selbst sprechen – oder schweigen. Und auch dies Schweigen ist beredt, wie die Monate des Unterganges des Deutschen Reiches bis zum September 1945 zeigen, als Benn seine Kladden geschlossen hielt. So setzt Hof diesen zersplitterten Gedichteschöpfer zusammen aus seinen eigenen Notaten: Was habe ich gedacht? Und die Notizen in den Kalendern wären nicht von Benn, wenn sie nicht auch Uhrzeiten, Preise oder andere Zahlen wie von einem Finanzbeamten dokumentierten.

Der Biograph zahlt allerdings einen Preis für seine Annäherung. Nicht nur verwendet er als Fundament seiner Lebensschilderung die Aufzeichnungen Benns. Auch benutzt er die Sprache Benns. Das macht das Buch leichter lesbar, bleibt man quasi in derselben Sprachmelodie. Zuweilen schleichen sich jedoch Sätze ein, bei denen man vergebens die Anführungszeichen sucht. Die Bennsche Melodie hat auf den Biographen abgefärbt.

Bei der insgesamt herausragenden Dichte und Qualität dieser Biographie jedoch ein leicht zu verzeihender Kotau vor dem Meister. Bisher ist es keiner Benn-Biographie vergleichbar gelungen, ein Gefühl davon zu vermitteln, wie dieser Soldat, Hautarzt, der Liebhaber und Biertrinker, der in seinem Leben doch auch mit wenig zufrieden war, wie dieser Mann aus seinem staubigen Dasein die Gedichte abgerungen hat.

Vielleicht war es genau dieses bescheidene Leben in materieller Armut und ohne konstruierte Höhepunkte, das für Gottfried Benn die Bedingung war, zum genialischen Beobachter und Sprachgenie zu werden.

geschrieben am 14.12.2011 | 577 Wörter | 3421 Zeichen

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