ISBN | 3421045550 | |
Autor | Sadie Jones | |
Verlag | DVA | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 320 | |
Erscheinungsjahr | 2012 | |
Extras | - |
Mit "Der ungeladene Gast" bringt Sadie Jones ihren dritten Roman auf den deutschen Buchmarkt. Zuvor erzielte sie bereits 2008 mit ihrem Debütroman (Der Außenseiter) nicht nur in Großbritannien auf Anhieb Achtungserfolge. Jones wurde dafür mit dem Costa Book Awards ausgezeichnet und kann zudem auf mindestens ein verfilmtes Drehbuch (The fine art of love, 2005) zurückblicken. Allerdings – wie jeder andere Jungautor – musste die 1967 (es könnte laut Verlagsseite allerdings auch 1968 gewesen sein) geborene britische Autorin zuvor durchaus auch einige Fehlschläge hinnehmen und sich beispielsweise als Kellnerin die Butter auf ihren Brötchen verdienen. Das dürfte mittlerweile nicht mehr nötig sein, denn nicht nur ihr preisgekrönter Debütroman wurde zwischenzeitlich in mehrere Sprachen übersetzt.
Der Einband des vor mir liegenden Romans ist in einem warmen Rot gehalten. Er zeigt vorne eine Frau mit aufgestecktem Haaren in einem roten Kleid von hinten, wobei das Muster des Kleides und das Muster rot tapezierten Wand, vor der sie steht, identisch ist. Automatisch dachte ich dabei „das könnte jeder sein“ und faktisch passt es damit zu den lebendig wirkenden Romanfiguren, die tatsächlich durchaus neben uns wohnen könnten – Zeitrahmen hin oder her. Der Titel der deutschen Übersetzung ist stimmig und doch auch wieder nicht. Denn tatsächlich erscheint zu der eigentlich eher klein angedachten Geburtstagsfeier Emeralds nicht nur ein ungeladener Gast, sondern gleich mehrere. Allerdings gehen die anderen Überraschungsbesucher eher unter.
Was erwartet man beim Betrachten des Buches? Oder nach dem Lesen des Klappentextes? Ein Drama? Ein historisches Sittengemälde? Ein Art Gaslicht-Atmosphäre? Einen psychopathischen Daueramoklauf und permanente Gänsehaut vom bloßen Umblättern? Es könnte alles sein. Zumal man bei Titeln der Deutschen Verlags Anstalt sicher sein kann, dass es etwas ist, das sich angenehm vom üblichen Mainstream abhebt.
Mit Der ungeladene Gast bekommt man auch prompt einen Hauch Mystery, reichlich (schwarzen) Humor und feine Ironie. Psychologisch geschickt platzierte Seitenhiebe und Sticheleien mit einem unverstellten Blick auf eine gleichermaßen skurril versnobte wie teilweise verarmte feine Gesellschaft. Auf verkrustete Strukturen und wenige Möglichkeiten. Auf gewünschtes Sein und tatsächlichen Schein.
In Jones Roman gibt es fast ein Dutzend näher beschriebener Charaktere. Trotz dieser Fülle bleibt keiner von ihnen eindimensional. Sie zeigen sich vielschichtig und letzten Endes trotz aller Fehler nicht ganz so auf sich selbst bezogen sind, wie sie anfänglich wirken. In den acht Kapiteln zeigt sich, dass manches aus purem Eigennutz und anderes dann doch eher aus Eigenschutz geschieht. Fast alle lassen sich erschreckend leicht manipulieren und gewinnen dadurch noch an Echtheit.
Und so wird man mit eher leisen Tönen durch die Geschichte gezogen. Direkt hineingezogen hat es mich zugegebenermaßen nicht in Jones Roman – dafür gab es einige zu vorhersehbare Wendungen. Dennoch konnte ich das Buch nicht einfach weglegen. Denn zusätzlich zu den vorhersehbaren Wendungen kamen beim Lesen auch Fragen auf. Die wollten beantwortet werden, konnten es aber nicht gleich, da die Autorin mehrfach teils humorvolle, teils bitterböse oder arrogant wirkende Ausweichmanöver startete und vom eigentlich Offensichtlichen wegführte.
Da ist eine scheinbar ganz normale Familie. Der Stiefvater macht sich auf, Gelder zu besorgen, um das Anwesen und den Lebensstandard seiner angeheirateten Familie zu bewahren. Ein finanziell etwas in Schieflage geratenes Familienidyll? Nicht ganz, denn seine Stiefkinder bilden sich viel auf sich ein und lehnen ihn ab. Jedenfalls wird das im Bezug auf Emerald und ihren Bruder Clovis deutlich. Imogen, Smudge genannt, das dritte Kind im Bunde bleibt größtenteils sich selbst überlassen und kann ihre liebenswert kindlichen und doch sehr exzentrischen Einfälle - etwa ein Pony in ihr Zimmer zu bringen – in die Tat umsetzen. Emeralds Mutter Charlotte offenbart sich größtenteils als verantwortungslose, egoistische, ja oberflächliche Frau. Der reiche Nachbar John wirkt engstirnig und bigott, die ankommenden Freunde Ernest und Patience dagegen bodenständig und verlässlich. Da gibt es die verhärmte Haushälterin Florence und natürlich ist da noch Der ungeladene Gast Charlie Travesham-Beechers. All das wird genauso leicht und fast spielerisch erzählt wie die Ankunft der verunglückten Zugreisenden, die dringend ein Quartier für die Nacht brauchen. Das bekommen sie zwar, wirkliche Zuwendung und Versorgung erfahren sie jedoch nicht, da es sich nur um Passagiere der dritten Klasse handelt, die man in den Augen der Familie getrost übersehen kann. Zwar lässt Jones das eine oder andere Mal so etwas wie ein schlechtes Gewissen bei dieser aufkommen, wirklich hilfsbereit wirkt sie jedoch nicht, steht doch immerhin Emeralds Geburtstagsfeier an, die ihre absolute Aufmerksamkeit verdient. Dem verspätet eintreffenden Zugreisenden Travesham-Beechers der ersten Klasse geht es da schon anders und er wird nicht nur wegen seiner fast bezwingenden Ausstrahlung geradezu hofiert.
Die Welt Emeralds und ihrer eigentlichen Gäste gerät durch das Auftauchen der verunglückten Zugreisenden dennoch kurzfristig aus den Fugen. Die Autorin setzt dabei nicht auf Schockeffekte im großen Stil. Dafür webt sie langsam und stetig um ihre Figuren eine dichte, vielschichtige und bildhafte Atmosphäre, deren eigentliche Spannung sich manchem Leser eventuell erst auf den zweiten Blick und für einige eventuell gar nicht erschließen wird. Doch es lohnt sich dranzubleiben, denn alle ihre Charaktere – außer der kleinen Smudge - machen eine Wandlung durch. Lernen dazu, was anfangs unmöglich erscheint. Und das alles in einem Zeitraum von wenigen Stunden.
Fazit:
Der ungeladene Gast startet (fast zu) behutsam und nimmt erst nach einer Weile an Fahrt auf. Was nicht grundsätzlich schlecht ist, sondern dafür sorgt, dass Jones eine wie bereits erwähnt überaus bildhafte Kulisse für und mit ihren authentischen Figuren schafft. Doch genau deshalb würde ich den Roman auch eher als unterhaltsam denn spannend bezeichnen. Der dezent-spukige Effekt steigert sich zudem so behutsam, dass man bald erkennt, worauf er hinausläuft. Letztlich fügt er sich zwar so passend ein, dass man ihn dennoch nicht missen will. Trotzdem bleibt das Ende etwas unbefriedigend. Beinahe als wäre etwas gestrichen oder in letzter Sekunde abgewandelt worden. Alles in allem habe ich mich jedoch gut unterhalten gefühlt und möchte allein schon wegen der Bildhaftigkeit 10 von 12 Punkten für Der ungeladene Gast vergeben.
Copyright © 2012 Antje Jürgens (AJ)
geschrieben am 29.10.2012 | 968 Wörter | 5698 Zeichen
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