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Parzelle Paradies. Berliner Geschichten


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Rezension von

Matthias Pierre Lubinsky

Parzelle Paradies. Berliner Geschichten »Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen«, schrieb der große Flaneur Franz Hessel. Man werde überspült von der Eile der anderen, »es ist ein Bad in der Brandung«. Aber Hessel, der im Auftrag einer großen Berliner Zeitung mit begierigem Blick die vielen Berliner Kieze durchstreifte, hatte auch Grund zu Klagen: »Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht, wenn man ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen der Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb«, konstatierte er Mitte der 1920er Jahre. Die heutige Berliner Taschendiebin heißt Annett Gröschner. Die 1964 in Magdeburg Geborene durchstreift ihre Wahlheimat Berlin in Hesselscher Tradition und Manier. Und sie macht dies gleichzeitig auf bewundernswerte Weise zeitgemäß: »Klingel. Haxen abkratzen. Fahrräder abstellen verboten. Keine Werbung. Rauchabzug. Immer die Tür geschlossen halten. Pasteurstraße. Direkt im Wahlkreis 8. Weißbier vom Fass. Der Exorzist. Gehwegschäden. Straßenschäden. Straßenschäden. Gehwegschäden«, lauten ihre Eindrücke während einer Busfahrt. Sie notiert diese Eindrücke unkommentiert. Verstehen kann man das vielleicht nur, wenn man selbst länger in Berlin gelebt hat. In keiner anderen deutschen Stadt würden ausschließlich Worte Atmosphäre wiedergeben können. In Paris, der Mutter aller modernen Städte, ginge das auch. Insofern ist Berlin sehr pariserisch. Wie die meisten anderen Bücher von Nautilus, so ist auch die »Parzelle Paradies« engagiert. Die Autorin bezieht Stellung. Dies macht sie allerdings recht nonchalant. Ohne Ideologie und damit unaufdringlich. In »Stadtradierungen« schildert sie, wie zu verschiedenen Zeiten die verschiedenen Machthaber gewillt waren, die Stadt zu erneuern. Vorgeblich wollte man Bezirke modernisieren. Für die Menschen. Natürlich. Dies tat Albert Speer im Auftrag Hitlers ebenso wie einige Jahre später Ulbricht. Auch demokratische Regierungen und Senate verdienten sich kein Ruhmesblatt. Annett Gröschner erinnert an die Hausbesetzer und sagt, ohne sie wären in Berlin-(West) Kreuzberg und in Ostberlin Prenzlauer Berg in ihrer ursprünglichen Substanz verschwunden. Das Buch versammelt einzelne Bruchstücke, Stadtlandschaften, vielleicht Tageseindrücke. Zusammengefasst ergeben sie eine Flanerie durch diese extreme Stadt Berlin, die man gleichzeitig lieben und hassen kann. Der Flaneur will sich beim Flanieren letztlich - auch - selbst erfahren. Bei seinen Streifzügen erfährt er die Stadt, ihre Kieze und deren Menschen. Durch den Kontakt zu den jeweiligen Bewohnern erfährt er auch über sich. Schilderungen vom Flanieren stehen daher zu ihrer Subjektivität. Nicht zufällig berichtet Annett Gröschner zu Beginn des lesenswerten Buches über ihre ersten kindlichen Lektüreerfahrungen, die immer mit dem Flanieren verwoben bleiben werden. »Erwachsen bin ich geworden, als ich entdecken musste, dass man nicht immer in einem warmen Bett aufwacht, wenn man gegen den Mond stößt.« Wie es ihre Vorgänger in diesem literarischen Genre taten, so schildert auch die Autorin offen ihr Verhältnis zum Autorinsein, zum Schreiben und den damit verbundenen Problemen. »Ich wollte nie eine Autorin sein, die am Schreibtisch sitzt und über eine Frau schreibt, die am Schreibtisch sitzt und darüber schreibt, wie eine Frau am Schreibtisch sitzt.« Darüber hinaus treibt sie um die Zerrissenheit, auf der einen Seite eine gewisse Zurückgezogenheit zu brauchen, auf der anderen Seite jedoch unter Menschen sein zu wollen: »Ich könnte nie einsam in einem Haus auf dem Land sitzen und vor mich hinschreiben. Ich brauche die Stadt. Ich muss von einer Sekunde auf die andere den Schreibtisch verlassen und durch die Menge streichen können. « Walter Benjamin schrieb über Hessels 1929 erschienenes »Spazieren in Berlin«: »Baudelaire hat das grausame Wort von der Stadt, die schneller als ein Menschenherz sich wandle, gesprochen. Hessels Buch ist voll tröstlicher Abschiedsformeln für ihre Bewohner. Ein wahrer Briefsteller des Scheidens ist es, und wer bekäme nicht Lust, Abschied zu nehmen, könnte er mit seinen Worten Berlin so ins Herz dringen wie Hessel seinen Musen aus der Magdeburger Straße.« Dies trifft ein Stück weit auch auf die »Parzelle Paradies« von Annett Gröschner zu.

»Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen«, schrieb der große Flaneur Franz Hessel. Man werde überspült von der Eile der anderen, »es ist ein Bad in der Brandung«. Aber Hessel, der im Auftrag einer großen Berliner Zeitung mit begierigem Blick die vielen Berliner Kieze durchstreifte, hatte auch Grund zu Klagen: »Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht, wenn man ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen der Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb«, konstatierte er Mitte der 1920er Jahre.

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Die heutige Berliner Taschendiebin heißt Annett Gröschner. Die 1964 in Magdeburg Geborene durchstreift ihre Wahlheimat Berlin in Hesselscher Tradition und Manier. Und sie macht dies gleichzeitig auf bewundernswerte Weise zeitgemäß: »Klingel. Haxen abkratzen. Fahrräder abstellen verboten. Keine Werbung. Rauchabzug. Immer die Tür geschlossen halten. Pasteurstraße. Direkt im Wahlkreis 8. Weißbier vom Fass. Der Exorzist. Gehwegschäden. Straßenschäden. Straßenschäden. Gehwegschäden«, lauten ihre Eindrücke während einer Busfahrt. Sie notiert diese Eindrücke unkommentiert. Verstehen kann man das vielleicht nur, wenn man selbst länger in Berlin gelebt hat. In keiner anderen deutschen Stadt würden ausschließlich Worte Atmosphäre wiedergeben können. In Paris, der Mutter aller modernen Städte, ginge das auch. Insofern ist Berlin sehr pariserisch.

Wie die meisten anderen Bücher von Nautilus, so ist auch die »Parzelle Paradies« engagiert. Die Autorin bezieht Stellung. Dies macht sie allerdings recht nonchalant. Ohne Ideologie und damit unaufdringlich. In »Stadtradierungen« schildert sie, wie zu verschiedenen Zeiten die verschiedenen Machthaber gewillt waren, die Stadt zu erneuern. Vorgeblich wollte man Bezirke modernisieren. Für die Menschen. Natürlich. Dies tat Albert Speer im Auftrag Hitlers ebenso wie einige Jahre später Ulbricht. Auch demokratische Regierungen und Senate verdienten sich kein Ruhmesblatt. Annett Gröschner erinnert an die Hausbesetzer und sagt, ohne sie wären in Berlin-(West) Kreuzberg und in Ostberlin Prenzlauer Berg in ihrer ursprünglichen Substanz verschwunden.

Das Buch versammelt einzelne Bruchstücke, Stadtlandschaften, vielleicht Tageseindrücke. Zusammengefasst ergeben sie eine Flanerie durch diese extreme Stadt Berlin, die man gleichzeitig lieben und hassen kann. Der Flaneur will sich beim Flanieren letztlich - auch - selbst erfahren. Bei seinen Streifzügen erfährt er die Stadt, ihre Kieze und deren Menschen. Durch den Kontakt zu den jeweiligen Bewohnern erfährt er auch über sich. Schilderungen vom Flanieren stehen daher zu ihrer Subjektivität. Nicht zufällig berichtet Annett Gröschner zu Beginn des lesenswerten Buches über ihre ersten kindlichen Lektüreerfahrungen, die immer mit dem Flanieren verwoben bleiben werden. »Erwachsen bin ich geworden, als ich entdecken musste, dass man nicht immer in einem warmen Bett aufwacht, wenn man gegen den Mond stößt.«

Wie es ihre Vorgänger in diesem literarischen Genre taten, so schildert auch die Autorin offen ihr Verhältnis zum Autorinsein, zum Schreiben und den damit verbundenen Problemen. »Ich wollte nie eine Autorin sein, die am Schreibtisch sitzt und über eine Frau schreibt, die am Schreibtisch sitzt und darüber schreibt, wie eine Frau am Schreibtisch sitzt.« Darüber hinaus treibt sie um die Zerrissenheit, auf der einen Seite eine gewisse Zurückgezogenheit zu brauchen, auf der anderen Seite jedoch unter Menschen sein zu wollen: »Ich könnte nie einsam in einem Haus auf dem Land sitzen und vor mich hinschreiben. Ich brauche die Stadt. Ich muss von einer Sekunde auf die andere den Schreibtisch verlassen und durch die Menge streichen können. «

Walter Benjamin schrieb über Hessels 1929 erschienenes »Spazieren in Berlin«: »Baudelaire hat das grausame Wort von der Stadt, die schneller als ein Menschenherz sich wandle, gesprochen. Hessels Buch ist voll tröstlicher Abschiedsformeln für ihre Bewohner. Ein wahrer Briefsteller des Scheidens ist es, und wer bekäme nicht Lust, Abschied zu nehmen, könnte er mit seinen Worten Berlin so ins Herz dringen wie Hessel seinen Musen aus der Magdeburger Straße.« Dies trifft ein Stück weit auch auf die »Parzelle Paradies« von Annett Gröschner zu.

geschrieben am 24.11.2008 | 621 Wörter | 3719 Zeichen

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