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Nervensachen – Geschichten vom Gehirn


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Rezension von

Daniel Bigalke

Nervensachen – Geschichten vom Gehirn Es kommt in der Wissenschaft immer darauf an, die richtigen und interessanten Fragen zu formulieren, deren Aufstellen bereits oft die halbe Antwort ist. Philosophen haben da den Bogen raus, stellen diese doch jegliche Fragen in Gänze und ohne Voreingenommenheit, weil ihnen – wenn sie an der Sache selbst und nicht an Stellung, Prämie und Vorteil interessiert sind – die Antwort das Elixier des Lebens darstellt. Der Autor Manfred Spitzer stellt sich im vorliegenden Buch aus der Sicht der Gehirnforschung die eigentlichen philosophischen Fragen: „Was ist Sein?“ oder „Was kann man wissen?“, um schließlich im Sinne des sokratischen Wesenswissens der Philosophie zu dem Schluß zu gelangen, daß man auch in der Hirnforschung von vielen Aspekten eines Prozesses, einer Funktion oder eines Phänomens absehen muß, um zu allgemeinen Wesensprinzipien zu gelangen. Hirnforschung ist also tendenziell reduktionistisch – aber ergiebig, wenn man sie mit den Ansprüchen des wahren Philosophen kombiniert und überschaubare, reine und ehrliche Horizonte absteckt, die zugleich Spekulationen und Gesinnungen begrenzen, ja man muß sagen des Gehirns verweisen. Manfred Spitzer ist leitender ärztlicher Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm und Leiter des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen. Er wendet seine direkt in den ersten Kapiteln entworfene Betrachtungsmethode sogleich an und stellt sich wichtige Fragen: Was hat ein Börsencrash mit unserem Gehirn zu tun? Wie lernt ein Kind im Mutterleib? Wie kann man herausfinden, was Babys denken und wahrnehmen? Was lernen wir schon im Mutterleib? Warum werden Menschen eigentlich so alt? Wovon träumen Ratten? Was bringt uns das Human Genome Project? Wie treffen wir moralische Entscheidungen? Was geht im Gehirn vor sich, wenn wir Schokolade essen? Natürlich bleiben die Antworten auf diese gezielten Fragen nicht aus. Er beantwortet sie immer mit Bezug auf die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften und immer ehrlich, gleichsam seinem Anspruch gemäß philosophisch mit Witz und Konsequenz. Die Texte in diesem Buch stellen eine Auswahl von Spitzers Arbeiten aus der Zeitschrift „Nervenheilkunde” dar und sind in elf Kapiteln geordnet, u.a. Geschichten, Entwicklung, Emotionen, Schlafen und Träumen, Neurobiologie und Gesellschaft, Evolution. Kürzlich erschienene und nach Inhalt rubrizierte Literaturangaben zum Thema runden dieses Werk ab, das letztendlich – und so wünscht es sich der Autor – nur zum Appetit anregen soll. „Es handelt sich also nicht wirklich um geistige Nahrung, sondern, (…), um eine Art Ansammlung von Appetizern.“ Spitzers Appetizer treten dabei durchaus auf als eine Art Gratwanderung zwischen populärwissenschaftlicher Informationsflut und ernster Neurowissenschaft, die anschaulich dargestellt wird und gesellschaftliche Schlussfolgerungen konsequent artikuliert. Und so verwundert es nicht, wenn der Autor im letzten Kapitel zur „Evolution“ in Anlehnung an den Philosophen Martin Heidegger meint, dieser sei auch seinem Prinzip treu geblieben, sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) nicht zu Ende geschrieben zu haben, da die fehlenden Abschnitte größeren Effekt als ein vollendetes Buch hätten, indem sie zum Selbstdenken anregten. Ebenso könnte man meinen, daß es also gerade die Stärke Spitzers ist, wissenschaftlichen „Populismus“ mit neurowissenschaftlicher Ernsthaftigkeit zu verknüpfen, um viele Leser zu gewinnen. Trotz des Umfanges ist das Buch gerade dadurch gut lesbar und lesenswert – so wie alle einzelnen enthaltenen Geschichten. Die Rechnung des Autors, orientiert an der Rechnung des Philosophen, geht auf und führt den Leser auf den Grund der Dinge. Auch der Philosoph Heidegger, der zwar nicht wie im Buch abgedruckt 1989 bis 1976, also rückwärts, lebte, sondern von 1889 bis 1976, ging für Spitzer den Dingen auf den Grund und wer weiß, vielleicht leben ja einige Philosophen – rein gedanklich – wirklich rückwärts, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Schade nur, daß Spitzer Heidegger zur Frage des „Seins“ nicht zitiert, denn auch dort findet sich wohl ernst Gemeintes, aber zunächst seltsam Anmutendes - freilich nur, wenn man die philosophische Sachebene bewußt verläßt. Heidegger schreibt nämlich zur Seinsverfassung des Daseins, welche er „In-Sein“ nennt: „In-Sein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, des die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins hat.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 2001, S. 54) Das klingt für Außenstehende amüsant, ist aber zutiefst existenziell gemeint. Gerade Fragen nach dem Wesen von etwas liegen also außerhalb der Naturwissenschaft und sind besser verständlich, wenn man sich sowohl der ernsten Frage als auch ihrem humorvollen Gehalt öffnet. Hier beginnt die Leistung des Gehirns und Bewußtseins. Spitzer spitzt in typischer Manier zu: Warum also ist Chili dann scharf? – Die Antwort muß man lesen! Denn das vorliegende Buch eröffnet Perspektiven, denen trotz ihrer humorvollen Präsentation ein heuristischer Wert innewohnt, der nicht zum Glaubeninhalt degeneriert, sondern zum weiterdenken gemahnt.

Es kommt in der Wissenschaft immer darauf an, die richtigen und interessanten Fragen zu formulieren, deren Aufstellen bereits oft die halbe Antwort ist. Philosophen haben da den Bogen raus, stellen diese doch jegliche Fragen in Gänze und ohne Voreingenommenheit, weil ihnen – wenn sie an der Sache selbst und nicht an Stellung, Prämie und Vorteil interessiert sind – die Antwort das Elixier des Lebens darstellt.

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Der Autor Manfred Spitzer stellt sich im vorliegenden Buch aus der Sicht der Gehirnforschung die eigentlichen philosophischen Fragen: „Was ist Sein?“ oder „Was kann man wissen?“, um schließlich im Sinne des sokratischen Wesenswissens der Philosophie zu dem Schluß zu gelangen, daß man auch in der Hirnforschung von vielen Aspekten eines Prozesses, einer Funktion oder eines Phänomens absehen muß, um zu allgemeinen Wesensprinzipien zu gelangen. Hirnforschung ist also tendenziell reduktionistisch – aber ergiebig, wenn man sie mit den Ansprüchen des wahren Philosophen kombiniert und überschaubare, reine und ehrliche Horizonte absteckt, die zugleich Spekulationen und Gesinnungen begrenzen, ja man muß sagen des Gehirns verweisen.

Manfred Spitzer ist leitender ärztlicher Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm und Leiter des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen. Er wendet seine direkt in den ersten Kapiteln entworfene Betrachtungsmethode sogleich an und stellt sich wichtige Fragen: Was hat ein Börsencrash mit unserem Gehirn zu tun? Wie lernt ein Kind im Mutterleib? Wie kann man herausfinden, was Babys denken und wahrnehmen? Was lernen wir schon im Mutterleib? Warum werden Menschen eigentlich so alt? Wovon träumen Ratten? Was bringt uns das Human Genome Project? Wie treffen wir moralische Entscheidungen? Was geht im Gehirn vor sich, wenn wir Schokolade essen? Natürlich bleiben die Antworten auf diese gezielten Fragen nicht aus. Er beantwortet sie immer mit Bezug auf die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften und immer ehrlich, gleichsam seinem Anspruch gemäß philosophisch mit Witz und Konsequenz.

Die Texte in diesem Buch stellen eine Auswahl von Spitzers Arbeiten aus der Zeitschrift „Nervenheilkunde” dar und sind in elf Kapiteln geordnet, u.a. Geschichten, Entwicklung, Emotionen, Schlafen und Träumen, Neurobiologie und Gesellschaft, Evolution. Kürzlich erschienene und nach Inhalt rubrizierte Literaturangaben zum Thema runden dieses Werk ab, das letztendlich – und so wünscht es sich der Autor – nur zum Appetit anregen soll. „Es handelt sich also nicht wirklich um geistige Nahrung, sondern, (…), um eine Art Ansammlung von Appetizern.“ Spitzers Appetizer treten dabei durchaus auf als eine Art Gratwanderung zwischen populärwissenschaftlicher Informationsflut und ernster Neurowissenschaft, die anschaulich dargestellt wird und gesellschaftliche Schlussfolgerungen konsequent artikuliert.

Und so verwundert es nicht, wenn der Autor im letzten Kapitel zur „Evolution“ in Anlehnung an den Philosophen Martin Heidegger meint, dieser sei auch seinem Prinzip treu geblieben, sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) nicht zu Ende geschrieben zu haben, da die fehlenden Abschnitte größeren Effekt als ein vollendetes Buch hätten, indem sie zum Selbstdenken anregten. Ebenso könnte man meinen, daß es also gerade die Stärke Spitzers ist, wissenschaftlichen „Populismus“ mit neurowissenschaftlicher Ernsthaftigkeit zu verknüpfen, um viele Leser zu gewinnen. Trotz des Umfanges ist das Buch gerade dadurch gut lesbar und lesenswert – so wie alle einzelnen enthaltenen Geschichten. Die Rechnung des Autors, orientiert an der Rechnung des Philosophen, geht auf und führt den Leser auf den Grund der Dinge.

Auch der Philosoph Heidegger, der zwar nicht wie im Buch abgedruckt 1989 bis 1976, also rückwärts, lebte, sondern von 1889 bis 1976, ging für Spitzer den Dingen auf den Grund und wer weiß, vielleicht leben ja einige Philosophen – rein gedanklich – wirklich rückwärts, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Schade nur, daß Spitzer Heidegger zur Frage des „Seins“ nicht zitiert, denn auch dort findet sich wohl ernst Gemeintes, aber zunächst seltsam Anmutendes - freilich nur, wenn man die philosophische Sachebene bewußt verläßt. Heidegger schreibt nämlich zur Seinsverfassung des Daseins, welche er „In-Sein“ nennt: „In-Sein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, des die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins hat.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 2001, S. 54) Das klingt für Außenstehende amüsant, ist aber zutiefst existenziell gemeint.

Gerade Fragen nach dem Wesen von etwas liegen also außerhalb der Naturwissenschaft und sind besser verständlich, wenn man sich sowohl der ernsten Frage als auch ihrem humorvollen Gehalt öffnet. Hier beginnt die Leistung des Gehirns und Bewußtseins. Spitzer spitzt in typischer Manier zu: Warum also ist Chili dann scharf? – Die Antwort muß man lesen! Denn das vorliegende Buch eröffnet Perspektiven, denen trotz ihrer humorvollen Präsentation ein heuristischer Wert innewohnt, der nicht zum Glaubeninhalt degeneriert, sondern zum weiterdenken gemahnt.

geschrieben am 28.11.2007 | 733 Wörter | 4372 Zeichen

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